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15. Juli 2010
DOGMA and Beyond
Bericht vom INTERFILM-Seminar in Kopenhagen. Von Karsten Visarius

Anlässlich seiner 41. Generalversammlung veranstaltete INTERFILM in Zusammenarbeit mit Jes Nysten, Mitglied des Leitungsausschusses, und Bo Torp Pedersen, Präsident ihrer dänischen Partnerorganisation „Kirke og Film“, vom 10.-13. Juni 2010 ein Seminar unter dem Titel „Dogma and Beyond“. Die Veranstaltung wurde vom Dänischen Filminstitut, der Christian P. Hansen und Frau-Stiftung sowie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) unterstützt. Ihr Thema bezieht sich auf das von vier dänischen Regisseuren – Lars von Trier, Thomas Vinterberg, Kristian Levring und Sören Kragh-Jacobsen, den „Dogma-Brüdern“ – lancierte Manifest „Dogma 95“, das anlässlich des 100. Geburtstags des Films 1995 zehn Regeln für eine Erneuerung der Filmkunst formulierte.

Produktionen, die diesen auch als „Keuschheitsgelübde“ (Vow of Chastity) bezeichneten Regeln folgten, erhielten eine Urkunde, die auch in ihrem Vorspann dokumentiert wurde. Sie verlangen u.a. den Verzicht auf Spezialeffekte, künstliches Licht und Waffengewalt, die Verwendung einer Handkamera und die Arbeit an Originalschauplätzen. Nach der Einladung der beiden ersten Dogma-Filme, „Das Fest“ von Thomas Vinterberg und „Idioten“ von Lars von Trier, zum Festival von Cannes 1998 fand Dogma 95 breite Beachtung in der Filmöffentlichkeit und wurde dort kontrovers diskutiert. Im Jahr 2002 wurde das Dogma-Sekretariat, das die Urkunden ausstellte, geschlossen. Über die Anzahl der Dogma-Filme kursieren unterschiedliche Zahlen. Eine im Internet publizierte Liste, die auf Selbstanmeldungen beruht, nennt 254 Titel, darunter auch offenkundige Blindgänger; bis zur Schließung des Sekretariats waren offiziell 31 Filme registriert worden. Die Impulse der Dogma-Bewegung reichen jedoch über dieses Korpus hinaus.

Einleitend stellte die dänische Filmkritikerin Liselotte Michelsen die Dogma-Bewegung vor. Sie stützte sich dabei auf Ausschnitte aus dem Dokumentarfilm „The Purified“ von Jesper Jargil (De lutrede, Dänemark 2002), der deutlich die zweideutig-ironische Haltung der „Dogma“-Protagonisten belegt, nicht zuletzt in ihrem Spiel mit religiösen Begriffen und Rhetoriken. Michelsen betonte vor allem zwei Impulse des Konzepts: eine Befreiung der Kamera von der Dominanz der Technik und die Befreiung der Schauspieler von starren Drehbuchvorgaben. Die „Entfesselung“ der (meist digitalen) Handkamera stieß jedoch auch auf Kritik, weil sie den Anspruch auf visuelle Gestaltung, auf die Ausdruckskraft der Bildkomposition preisgibt – mit der Folge, dass sich eine ermüdende Schwemme von verwackelten oder verissenen Filmsequenzen im internationalen, „Dogma“-geadelten Autorenfilm ausbreitete, so der Vorwurf.

Im Rückblick erscheint das Dogma-Manifest vor allem als ein erfolgreiches Marketing-Konzept für mehr oder weniger anspruchsvolle Autorenfilme im Low-Budget-Bereich, als ein Akt der Selbstbehauptung gegenüber der immer stärkeren Konzentration auf das amerikanische Blockbuster-Kino. Dafür stehen auch die 1992 von Lars von Trier und Peter Aalbæk Jensen gegründeten Zentropa-Studios, die, beginnend mit „Idioten“, eine Reihe von Dogma-Filmen produzierten. Peter Aalbæk selbst stellte den Seminarteilnehmern das auf dezentralisierten Produktionseinheiten beruhende Konzept des Unternehmens vor, und Ib Tardini, der mit „Italienisch für Anfänger“ den erfolgreichsten Dogma-Film produzierte, führte über das Studiogelände. Zentropa ist inzwischen die größte unabhängige Filmproduktionsfirma Skandinaviens und hat in mehreren europäischen Ländern Produktionsbüros eröffnet. So wurde u.a. Hans-Christian Schmids „Sturm“ von Zentropa koproduziert.

Eher indirekte Wirkungen der Dogma-Bewegung sah Mikael Larsson, Theologe und Kulturbeauftragter der Schwedischen Kirche, auf Filmemacher in Schweden. In den Filmen von Lukas Moodysson („Fucking Amål“) und Roy Andersson („Songs from the Second Floor“), den beiden profiliertesten Autoren des schwedischen Kinos, spürte er einer vergleichbaren Gesellschaftskritik und ästhetischen Radikalität nach, die sie zu einer Erforschung von Grenzerfahrungen des modernen Subjekts führt. Die Ähnlichkeiten. so Larsson, lassen sich weniger stilistisch, also in einer Anlehnung an die Dogma-Regeln, als in der künstlerischen Selbstdefinition erkennen. (Der Vortrag - in englischer Sprache - findet sich in der Rubkrik "Forum", bitte hier klicken.)

Abschließend stellte Jey Nysten, Pfarrer und Filmkritiker aus Dänemark, den Versuch einer Gesamtbewertung der Dogma-Bewegung zur Diskussion. Er schlug dabei noch einmal den Bogen zu Jesper Jargils Dogma-Dokumentation, an deren Ende Lars von Trier feststellt, der wahre Dogma-Film sei noch gar nicht gedreht worden. Aus dieser Bemerkung, wie so oft bei von Trier eine Mischung von Anmaßung, Ironie und Provokation, entwickelte Nysten ein anspruchsvolles Werkideal, das er als ständigen Antrieb mindestens der künstlerischen Arbeit von Triers versteht. Wie sein Leitstern Carl Theodor Dreyer, vor dessen in den Zentropa-Studios aufbewahrter Teetasse sich die Mitarbeiter abgedrehter Filme früher zu einer Art Filmtaufe versammelten, scheint auch von Trier seine bisherigen Schöpfungen nur als Vorarbeiten zu einem imaginären Hauptwerk zu betrachten. Bei Dreyer war es ein Christus-Film, den er jahrzehntelang vorbereitete und nie vollendete. Lars von Triers nächster Film, so verriet er den Seminarteilnehmern bei einer zufälligen Begegnung in der Zentropa-Kantine, wird den Titel „Melancholia“ tragen.