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8. November 2012
Ökumenischer Empfang Cottbus 2012
Grußwort von Festivaldirektor Roland Rust

Ein herzliches Willkommen allen Gästen dieses Ökumenischen Empfangs!

Besonders herzlich begrüße ich Frau Superintendentin Ulrike Menzel, den Vorsitzenden des Ökumenischen Arbeitskreises in Cottbus, Pfarrer Volker Mihan, sowie den Präsidenten von INTERFILM, Hans Hodel aus der Schweiz – der uns seit bereits vielen Jahren besucht und engagiert unterstützt. Er wird Ihnen im Anschluss die Mitglieder der diesjährigen Ökumenischen Jury vorstellen. Das FilmFestival Cottbus schätzt sich sehr glücklich, nunmehr bereits zum vierzehnten Male mit einer Ökumenischen Jury bedacht zu werden.

Ich darf sie hier sehr herzlich im Namen des gesamten Festivalteams begrüßen und nutze gern die Gelegenheit, Ihnen den Geschäftsführer der FilmFestival Cottbus GmbH, Jörg Ackermann, vorzustellen sowie unseren unermüdlichen Festivalmanager Andreas Stein.

Der Ökumenische Empfang der Kirchen ist beim FilmFestival Cottbus bereits zu einer guten Tradition geworden und zählt bei dessen Besuchern zu den Höhepunkten der Festivalwoche. Und dennoch ist diesmal alles ein wenig anders, was das gesellige Get together neu beleben wird: Wir sind erstmals zu Gast in der Cottbuser Oberkirche St. Nikolai – und damit in der größten mittelalterlichen Kirche der Niederlausitz. Ich entsinne mich noch sehr genau, wie wir gemeinsam mit dem Kirchenkreis überlegten, ob wir diesen riesigen Raum auch tatsächlich zu füllen vermögen – und bin nun natürlich sehr froh zu sehen, dass unsere Einladung so rege Resonanz erfahren hat.

Dass Glaube und Religion eine ganz wesentliche Rolle beim Cottbuser Festival spielen, ist durchaus kein Novum. Neu aber ist diesmal, dass beides geradezu als Leitmotiv des 22. Festivaljahrgangs fungiert – wie bereits ein Blick auf unser Festivalmotiv belegt, das den Horizont bewusst gen Himmel weitet. Das Filmprogramm versucht dieses Versprechen einzulösen mit einer umfangreichen Reihe unter dem programmatischen Titel >Osteuropa der Religionen<. Dieser Fokus mag zunächst durchaus verwunderlich, so nicht sogar verwegen klingen – auch und gerade auf einem „Festival des osteuropäischen Films“. Ich kann Ihnen versichern, dass diese Wahl wenig zu tun hat mit meinem früheren Studium der Theologie…

Tatsächlich ist seit geraumer Zeit vielerorts eine verstärkte „Rückkehr des Religiösen“ zu beobachten, so dass von einer regelrechten „Renaissance des Religiösen“ gesprochen werden kann. Grund genug für das FilmFestival Cottbus, diesem auch im Bereich des Films zu beobachtenden aktuellen Phänomen im Rahmen einer spezifischen Programmreihe nachzuspüren – unterstützt von der Bundeszentrale für politische Bildung und in erstmaliger Medienpartnerschaft mit der Fachzeitschrift FILM-DIENST. Gegenwärtig erleben wir eine deutliche Rückbesinnung auf Grundfragen menschlicher Existenz, wie: „Woher kommen wir – und wohin gehen wir?“. „Welches sind unsere Koordinaten auf den oft verschlungenen Lebenspfaden?“. Letztlich: „Woran können wir glauben, insbesondere in einer Welt rasanten Wandels?“

Dieser wohl beispiellose Wandel und dessen Folgen sind im Osten des Kontinents besonders stark zu spüren. Kein Wunder: Nach dem unverhofften Schwinden realsozialistischer Gewissheiten vor zwei Jahrzehnten und der schon bald darauf einsetzenden Ernüchterung über die sich kaum erfüllenden Verheißungen des entfesselten Spätkapitalismus. So sieht der Einzelne sich auf sich selbst geworfen, was ein Vakuum schafft für die Suche nach Alternativen - was nicht zuletzt auch die etablierten Hüter des Glaubens vor völlig neue Herausforderungen stellt! 

Insofern ist unser diesjähriger Fokus >Osteuropa der Religionen< weit mehr als nur eine Filmreihe neben vielen weiteren: Vielmehr versteht sich dieser Fokus als eine Einladung zur Begegnung mit den vielfältigen Religionen unserer Nachbarn, mit deren religiösem Leben und gelebter Religiosität heute: das Filmfestival verstanden als „Vorstellung“ - in der wir uns spiegeln können.

Dessen eingedenk ist das Festival dennoch beileibe keine liturgische Veranstaltung, sondern vermag vor allem Denkanstöße zu geben – durchaus auch in provokanter Weise. So ist beispielsweise ein radikaler, auf authentischen Geschehnissen basierender Film aus unserem Nachbarland Polen dort zum Manifest der jungen Generation geworden: Das Werk zählt in Cottbus zu den zahlreichen deutschen Erstaufführungen und trägt den Titel JESTES BOGIEM (DU BIST GOTT). Mit diesem theologisch durchaus anfechtbaren Statement möchte ich schließen - und freue mich auf viele anregende Begegnungen mit Gästen aus nah und fern beim anschließenden Empfang.





10. Juni 2011
Der Einsatz von Kurzfilmen im Gottesdienst
Rezension zu: Thomas Damm, Sabine Schröder, Kurzfilme im Gottesdienst. Anleitungen und Modelle für Gemeinde, Schule und Gruppen. Gütersloher Verlagshaus Gütersloh 2011, 127 Seiten, 22,95 €

Von Christine Stark

Eine Idee, die dem oft wortlastigen Gottesdienst Schwung verleihen kann: Kurzfilm und Diskussion statt Predigt. Ein handliches Buch gibt dazu kompakte Information – zum Ausprobieren.

Wer sich schon einmal an einer Filmpredigt versucht hat, weiss dass dies alles andere als einfach ist. Problematisch ist bereits die Frage, ob und wie eine Filmhandlung nacherzählt oder anhand von Ausschnitten wenigstens in Ansätzen nacherlebbar gemacht werden kann. Nun präsentieren Sabine Schröder und Thomas Damm in einem handlichen Buch die einfache und überzeugende Idee, statt grossem Kino Kurzfilme in die Kirche zu bringen. Damit ist nicht nur das Predigtdilemma gelöst, es wird generell ein neues Erprobungsfeld für gottesdienstliches Handeln zur Debatte gestellt. Das gemeinsame Ansehen eines Kurzfilms (bis maximal 15 Minuten) und ein anschliessendes Gespräch der Gemeindeglieder treten an die Stelle einer traditionellen Predigt. Von Priestertum aller Gläubigen und der Demokratisierung des gottesdienstlichen Handelns ist die Rede, eine Idee, die gerade auch reformierten Gottesdiensten mit ihrer Konzentration auf Predigt und den oder die Predigende frischen Schwung verleihen kann. Dass die Pfarrerinnen und Pfarrer dennoch bei Planung und Durchführung äusserst sorgfältig arbeiten müssen, thematisiert das Buch durchgehend. Die Materie will gründlich durchdacht und vorbereitet sein. Auswahl eines geeigneten Kurzfilms, rechtliche und technische Fragen, sind das Eine. Liturgisches Feingefühl für den um den Film herumgelagerten Gottesdienst durch die Auswahl von Gebeten, Lesungen und Liedern sowie das Filmgespräch das Andere.

Sabine Schröder als Leiterin der Filmzentrale der Evangelischen Kirche von Westfalen und Thomas Damm als Gemeindepfarrer und Filmbeauftragter des Kulturrats der Evangelischen Kirche von Westfalen wissen, worüber sie schreiben. Ihr Buch ist kompakt, informativ und praxisorientiert, wobei die „Modelle für Schulen und Gruppen“, die der Untertitel verspricht, deutlich hinter dem gottesdienstlichen Vorschlag zurückbleiben. Dies fällt aber nicht weiter ins Gewicht, schliesslich ist die Gottesdienstidee die kühnste und interessanteste. Eine Checkliste soll helfen, technische Fallstricke zu vermeiden, eine Filmliste bietet erste Anregungen für die Auswahl. Zudem liegt eine DVD mit zwei Filmen bei, auch wenn deren Daten nur für Computer und nicht für DVD-Player aufbereitet sind. Die rechtlichen Details gelten freilich nur für den deutschen Raum. Doch ist selbstverständlich auch in der Schweiz ein Gottesdienst eine öffentliche Veranstaltung und entsprechend sind die Vorführrechte abzuklären. Hierfür wie auch bei der Filmauswahl geht jede kirchliche Medienstelle gerne zur Hand, im Medienladen ist darüber hinaus das Buch erhältlich. Fünf ausformulierte Gottesdienste runden das Ganze ab. An diesen fällt auf, dass erstaunlich viele Texte als Lesungen zusammengestellt sind. Ein evangelischer Reflex, doch noch genug Wort zu Wort kommen zu lassen? Doch dies sollten am besten diejenigen ausprobieren, die sich an dieses neue Gottesdienstkonzept heranwagen.

Christine Stark ist Filmbeauftragte der Reformierten Medien (Zürich) und Mitglied des Leitungsauschusses (Steering Committee) von INTERFILM. Der Text erschien erstmals in der Reformierten Presse Nr. 15/16 (2011)





14. Februar 2010
Bestehen auf dem Konkreten
Laudatio auf Thomas Koebner zur Verleihung des Sonderpreises der Kirchen auf der Berlinale 2010. Von Hans Helmut Prinzler

Sehr geehrte Frau Dr. Bahr, sehr geehrter Herr Bischof Fürst,
meine Damen und Herren, lieber Thomas,

einen Sonderpreis verleiht man, wenn die vorhandenen Kategorien für einen Kandidaten (oder ein Kandidatin) nicht ausreichen und wenn der potentielle Empfänger für einen Ehrenpreis offensichtlich noch nicht alt genug ist. So gesehen tun die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche mit ihrer Auszeichnung für Thomas Koebner genau das Richtige. Koebner passt nicht in ein Schema oder eine Kategorie, und er gehört noch zur Gruppe 65+, ist gerade mal emeritiert Seine Kreativität ist ungebrochen, seine Verdienste lassen sich aber schon auf eine verallgemeinernde Formel bringen: er hat der „Wahrnehmung und Anerkennung des Films als Kunstform“ entscheidende Impulse gegeben.

Wie schafft man so etwas in einer Zeit zunehmender Medienglobalisierung, in der von Filmkunst immer weniger die Rede ist?

Man schafft es als Autor und als Lehrer durch Hinsehen und Hinhören, durch Nachdenken und Vergleichen, durch Reden und Schreiben, durch Überzeugungskraft und pädagogischen Eros.

Das sagt sich so einfach, aber erst einmal muss man durch Erziehung, Bildung, Neugierde, Lesesucht und Schreibmanie zu einer für die Künste offenen Sozialisierung kommen. Ich nenne nur einige biografische Stichworte für Thomas Koebners frühe Affinitäten zu einem Leben als Vermittler der Kunst:

  • das Heranwachsen in einer Familie mit überwiegend jüdischer Herkunft,
  • die Zuneigung des Großvaters Josef von Baky,
  • die Schallplatten des Vaters Hans Koebner,
  • der Einfluss des Deutschlehrers Erwin Kitzinger,
  • die Förderung durch den Musikredakteurs Antonio Mingotti,
  • die Entdeckung des Autors Hermann Broch,
  • das Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie.

Das Zusammenwirken unterschiedlichster Einflüsse und Interessen hat es verhindert, dass Thomas Koebner je auf eine schmale Spur geriet. Er näherte sich dem Film, wenn man das so sagen darf, auf breiter Front, fürs Hören und Sehen bestens ausgerüstet, oder, etwas neumodisch formuliert, „gut aufgestellt“. Das war vielleicht entscheidend für seinen selbständigen Blick aufs Kino.

Denn wer in den sechziger Jahren begonnen hat, sich wissenschaftlich mit Film zu beschäftigen, war schnell von konkurrierenden Theorien und Lehrmeinungen umzingelt. Ausgehend von der Publizistik, der Theaterwissenschaft, der Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft entstanden Kommunikations- und Medienwissenschaft, deren Protagonisten nichts Besseres zu tun hatten, als einen ständigen Methodenstreit auszufechten. Im Dschungel von Strukturalismus, Semiologie oder Filmphilologie gerieten die Filme selbst oft in den Hintergrund, sie wurden zu Objekten einer obskuren Wissenschaftsbegierde. Und das alles zur Zeit der Studentenbewegung, die mehr an der Enthüllung von Ideologie als am Entziffern von Filmbildern interessiert war.

Wer da, über das Kino lehrend und schreibend, einen eigenen Kopf behielt, war prädestiniert zum Wegbereiter einer eigenständigen Schule. Thomas Koebners akademische Stationen hießen München, Köln, Wuppertal, Marburg. Die Leitung der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin Anfang der neunziger Jahre war so etwas ein interessanter Zwischenaufenthalt. Folgenreich wurden vor allem seine 14 Jahre als Gründungsprofessor der Filmwissenschaft in Mainz. Sein Bekenntnis zur Hermeneutik und zum konkreten Begreifen des Films ist, glaube ich, die Brücke, über die er seine Studentinnen und Studenten, wie auch die Leserinnen und Leser seiner Texte auf ein festes Land des Filmverstehens geführt hat. In einer zugänglichen Sprache, mit logischen Schlussfolgerungen, ohne Absicherungen durch hundert Zitate und Definitionen. Auf diesem Niveau hätte ich selbst gern Filmwissenschaft studiert.

Wenn man Thomas Koebners „Schriften zum Film“ in vier Bänden mit rund 100 Texten vor allem aus den letzten zwanzig Jahren durchsieht, wird einem schlagartig klar, wie weit der Horizont seiner Interessen und Wahrnehmungen gespannt ist. Die Geschichte des deutschen und des europäischen Films bildet die Basis. Ausflüge in andere Kontinente sind Reisen eines Neugierigen. Das Werk großer Regisseure – ich nenne nur Lang, Murnau, Kubrick, Bergman, Fellini, Fassbinder – ist in seinem Kopf präsent. Motive werden fast mühelos assoziiert. Genre – natürlich nicht alle – formen sich zu neuen Zusammenhängen. Schauspielerinnen und Schauspieler in ihrer Typologie und Filmvariation zu beschreiben und zu charakterisieren ist für ihn eine besondere Lust.

Der Autor Thomas Koebner war und ist auch ein inspirierender Herausgeber. Ihm verdanken wir unter anderem die Gründung der Zeitschriften „Diskurs“, „Medienwissenschaft: Rezensionen“, „Augenblick“, des Jahrbuchs „Exilforschung“, der „Filmstudien“, der „Film-Konzepte“ und der kulturwissenschaftlichen Reihe „Projektionen“. Die von ihm herausgegebenen Standardwerke „Filmregisseure“, „Film-Klassiker“, „Sachlexikon des Films“ – alle im Reclam Verlag – wechseln häufig ihr Aussehen, weil sie immer wieder in überarbeiteter Neuauflage erscheinen. Selbst Kenner der Bücher haben Mühe, im Inneren das Alte und das Neue genau zu unterscheiden. Nichts ist ewig festgeschrieben, und Thomas schreibt immer mit.

Seine Produktivität hält verschiedene Verlage in Atem, alt eingesessene wie Reclam oder edition text + kritik und neu gegründete wie Gardez!, wo seine Schülerinnen und Schüler in den „Filmstudien“ eine Plattform haben. Mehr als fünfzig Bände sind dort inzwischen erschienen.

Thomas Koebners rhetorische Begabung, begünstigt durch Volumen und Timbre der Stimme, nimmt den Zuhörer mit auf Entdeckungsreisen. Kein Wunder, dass er auf Kongressen, Symposien und Konferenzen ein begehrter Redner ist. Das Vorgetragene wird später in diesem oder jenem Zusammenhang publiziert. Es bleibt damit über das Ereignis hinaus von Bestand.

Er kann nicht nur inspiriert reden, sondern auch neugierig fragen und zuhören. Das war die Basis für ein Buch wie „Edgar Reitz erzählt“. Aber das Fragen setzt natürlich Kenntnisse voraus. Und wieder hat Thomas Koebner ein Werk im Kopf, wenn er den Regisseur nach Details fragt, die vielleicht mehr bedeuten als immer nur das große Ganze.

Das Geheimnis des Erfolges von Thomas Koebner ist sein Bestehen auf dem Konkreten, auf der Genauigkeit. Er hat ein phänomenales Gedächtnis, in dem Filme und einzelne Szenen offenbar langfristig gespeichert werden können. Das macht es auch schwierig, mit ihm zu streiten, weil er für seine Position Belege ins Feld führt, die ihm blitzartig präsent sind. In der Streitlust hat inzwischen die Toleranz ein Übergewicht gegenüber der Unerbittlichkeit gewonnen. Man sagt, so etwas sei altersbedingt. Andererseits beherrscht ihn noch immer eine Unruhe. Er kann nicht abwarten, er ist leicht ungeduldig, weil Zeit für ihn nicht Geld, sondern Produktivität ist. Was könnte man, statt auf etwas zu warten, in dieser Zeit nicht alles tun...

Thomas Koebner steht für mich über den Parteien, über den wissenschaftlichen Schulen und auch über den Konfessionen. So hat es seine Logik, dass er heute gemeinsam von der evangelischen und der katholischen Filmarbeit in Deutschland ausgezeichnet wird.

Ich weiß, dass er über den Preis erstaunt und erfreut ist. Und ein bisschen höre ich ihn auch lachen, vielleicht weil ich dieses Lachen so mag, denn es bringt in den Ernst dieser Welt eine Kehrseite, ohne die das Leben nicht so schön wäre wie es ist. Lieber Thomas, ich freue mich für Dich, ich gratuliere und danke Dir.

Hans Helmut Prinzler

Sie können die Laudatio und die Erwiderung von Thomas Koebner auch als Video sehen und hören.

 





16. Februar 2009
"Cinema for Peace" 2009 in Berlin
Preis für den Besten Dokumentarfilm an die Eikon-Produktion "The Heart of Jenin"

von Angelika Obert, Berlin

Ein Spielzeuggewehr wurde Ahmed zum Verhängnis. Er geriet damit ins Visier israelischer Soldaten, die schossen echt. Ahmed starb in einem Krankenhaus in Haifa. Ein Arzt sprach den trauernden Vater an: Die Organe des Jungen könnten einigen Kindern das Leben retten. Ismael Khatib telefonierte mit seiner Frau, mit dem Mufti und auch mit dem Chef der Al-Aksa-Brigaden – und willigte ein. Die Nachricht ging im November 2005 um die Welt: Ein palästinensischer Vater überlässt die Organe seines ermordeten Kindes einem israelischen Krankenhaus. Eine grandiose Geste. Eine Geschichte, die im Film erzählt werden muss. Mit dieser Idee kam der junge Israeli Leon Geller zum Berlinale Talent Campus und von dort zur Evangelischen  Produktionsfirma Eikon, die sich für das Projekt gleich begeisterte. Doch erst als auch der deutsche Regisseur Markus Vetter mit im Boot war, konnte „Das Herz von Jenin“ gedreht werden. Der Film wurde anlässlich der Berlinale vorgestellt und – im großen Rummel beinahe unbeachtet – bei der Gala „Cinema for Peace“ als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet. Im Mai wird er in die Kinos kommen. Für ihn sei es eine Offenbarung gewesen, sagt Regisseur Markus Vetter, wie die Menschen im Flüchtlingslager Jenin  tatsächlich leben. Das wolle er nun weitergeben, weil es hierzulande immer noch viel zu wenige wissen.

Es ist ein Vater-Film geworden. Im Mittelpunkt steht Ismael, der  palästinensische Vater, dessen Leben sich durch den Tod seines Jungen so sehr gewandelt hat. Einst ein Intifada-Kämpfer, der  mehrere Jahre in israelischen Gefängnissen verbrachte, leitet er heute ein Jugendzentrum, das die Kinder von Jenin mit Bildungsangeboten vor militanten Karrieren bewahren will. Ismael hofft auf die Kinder diesseits und jenseits der Sperrzäune, die das Westjordanland zu einem großen Gefängnis machen. Ein bißchen fühlt er sich ja auch als Vater der israelischen Kinder, die durch die Organe seines Sohns gerettet wurden. Gemeinsam mit dem Filmteam kann er sie nun besuchen. Herzlich wird er aufgenommen bei der drusischen Familie und nicht minder herzlich von den Beduinen. Nur die jüdisch-orthodoxe Familie, deren kleine Tochter Menuha Ahmeds Niere bekommen hat, tut sich peinlich schwer mit der Begegnung. Vater Yaakov Levinson erscheint als der ressentimentgeladene, verdruckste Gegenspieler zum gelassenen, geläuterten Ismael. Aber gerade darum ist er es, der den Film aufregend macht. Denn es kommt nicht oft vor, dass jemand vor der Kamera so offen seine Verlegenheit preisgibt, die Beschämung, die entsteht, wenn der Feind zum Retter wird. Kläglich wirken seine Versuche, das eingefleischte  Vorurteil gegen „die Araber“ zu verteidigen, jämmerlich der Rückzug hinter die gewohnten Bastionen. Aber wer kennt das nicht von sich selbst? Am Ende der peinsam förmlichen Begegnung mit dem palästinensischen Vater sagt Yaakov: „Schade, dass wir uns nicht früher begegnet sind!“ Vielleicht wird Ismaels Traum einmal wahr: Vielleicht wird die kleine Menuha, das blasse, scheue Kind, eines Tages den Weg ins Freie finden und an Ahmeds Grab Blumen niederlegen.