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8./9.11.2002
Seminar Bilderstreit
(Dis)Regarding The Image - The New Controversy About The Image in Present Cinema

Himmelfahrt und Ichzerfall

SIGNIS-WACC-INTERFILM-Seminar zum Bilderstreit im Kino

von Karsten Visarius

Es wirkt paradox, ausgerechnet im Kino nach Spuren einer alten religionsgeschichtlichen Kontroverse zu suchen – dem Bilderstreit zwischen Ikonoklasten und Ikonophilen, zwischen Bildverächtern und Bilderliebhabern. Gilt doch das Kino als Wegbereiter des neuen, visuellen Zeitalters, das, folgt man Marshal McLuhan, die Gutenberggalaxis, das Zeitalter der Schrift, abgelöst hat. Müsste ein Ikonoklast von heute – als historische Figur übrigens und dem eigenen  Selbstverständnis nach immer ein Vertreter des Neuen, des Umsturzes, der Revolte – nicht ein Feind des Kinos sein? Und damit Anwalt eines wenn nicht hoffnunglos veralteten, dann doch erzkonservativen Kulturverständnisses? Es gibt auch diese Fraktion, und mit der nach dem 11. September ausgegebenen Parole vom "Ende der Spaßgesellschaft", die kaum verhohlen nach einer psychologischen Aufrüstung ruft, hat sie sich gerade jüngst wieder in Erinnerung gebracht. Sie richtet sich, mit düsteren Krisenszenarien und Verfallsdiagnosen im Gepäck, gegen eine von Unterhaltungsbedürfnissen geformte Medienindustrie insgesamt, die ihre Vertreter als Instrument ihrer Verbreitung und politischen Durchsetzung gleichwohl zu nutzen trachten. Das von den internationalen kirchlichen Medienorganisationen SIGNIS, WACC und INTERFILM während des Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg veranstaltete Seminar "(Dis)Regarding the Image – The Controversy About the Image in Present Cinema" (8.-9. November 2002) war jedoch weniger groben Fragen und Frontstellungen gewidmet. Dass das Kino ein Bündnis mit den Bedürfnissen des Publikums geschlossen hat, gilt der kirchlichen Filmarbeit längst nicht mehr als Anlass zur moralischen Ermahnung und pädagogischen Bevormundung. Sie erkennt darin vielmehr die Chance, Sehnsüchten und Selbstbestimmungen der Menschen auf die Spur zu kommen - und dabei Fragen der eigenen, christlichen Tradition in aktueller Gestalt wiederzubegegnen.

Spätestens seit dem DOGMA-Manifest der dänischen Regisseure um Lars von Trier ist die moralische Frage nach der Wahrheit der filmischen Bilder ins aktuelle Kino zurückgekehrt. Es propagiert eine neue Kunstlosigkeit, die sich sowohl gegen den technischen Aufwand des Hollywoodkinos wie gegen den Ästhetizismus des europäischen Autorenfilms richtet. Mehr als dieser rigide Anspruch hat die Vereinfachung der Bilderproduktion durch die digitale Videotechnologie der DOGMA-Ästhetik Schwung verliehen - Dreharbeiten mit einer leichten, spontanen Handkamera, an Originalschauplätzen bei natürlichem Licht und mit von den Schauspielern improvisierten Szenen. Auch Filmautoren ohne Bindung an die DOGMA-Gruppe haben diese technisch-ästhetischen Möglichkeiten aufgegriffen und ihren Zielsetzungen angepasst; auf dem Mannheimer Seminar repräsentierten Dominik Grafs >Der Felsen< und >Rosetta< von Luc und Jean-Pierre Dardenne das damit eröffnete stilistische Spektrum. Weder ihnen noch den DOGMA-Autoren kommt es jedoch auf Stilübungen an. Vielmehr nutzen sie die neuen Möglichkeiten zur Offenbarung intimer seelischer Zustände und Regungen ihrer Figuren. Dominik Graf porträtiert die innere Haltlosigkeit einer von ihrem Liebhaber während einer Korsikareise verlassenen Frau, während die Brüder Dardenne die Verzweiflung eines immer wieder um ihre Lebenschancen gebrachten jungen Mädchens im sozialen Abseits schildern. Bei allen Unterschieden zwischen den beiden Filmen führen sie ihre Figuren in einen emotionalen oder seelischen Extremzustand, in die Auflösung ihres sozialen Ichs: in eine als Freiheit missverstandene Leere bei Graf, in die Erschöpfung jeglicher vitaler Energien bei >Rosetta<.  

Maggie Roux, Referentin des Seminars aus dem englischen Leeds, sah im ikonoklastischen Impuls der DOGMA-Filme weniger die Sprengung filmischer Konventionen und die Überwindung der Künstlichkeit des Kinos als eine Erlahmung der Potenz, durch filmisches Erzählen über die Abbildung der wahrnehmbaren Welt hinauszugelangen, ein Erlöschen des magischen Funkens, mit dem das Kino die Schattenwelt der Psyche zum Leuchten bringt. Am Beispiel von Victor Flemings Hollywood-Klassiker The Wizard of Oz illustrierte sie die Verwandlung der banalen Alltagswelt in eine Gefühlslandschaft durch schiere Studiotricks. In dieser Verwandlung, in der sie eine phänomenologische Verwandtschaft zur katholischen Liturgie wiederfand, liegt, so Maggie Roux, die Essenz der Kinofaszination. Im Fall des Gelingens erzeugt die Kinoillusion, so ließe sich ihre Position zuspitzen, keine Täuschung, kein falsches Paradies, sondern eine Art Illumination, gerade weil die Bilder die Sinne und weniger den Verstand ansprechen. Die Bilderskepsis der DOGMA-Filme läuft Gefahr, nur noch ein Drama der Worte hervorbringen und ein intellektuelles Interesse  wecken zu können.

Die beiden Seminarbeispiele für ein den Bildern vertrauendes, Bildwirkungen kalkulierendes Kino, Tom Tykwers >Heaven< und Pedro Almodóvars >Hable con ella< (Sprich mit ihr), erzählen Geschichten, deren phantastischer, unwahrscheinlicher Verlauf eben nur durch die Logik der Bilder plausibel und zwingend erscheint. In beiden ist es die Liebe, ein Kinosujet par excellence, ebenso trivial wie unerschöpflich, die Wunder bewirkt – eine veritable Himmelfahrt bei Tykwer, eine Auferstehung vom (Schein)Tod bei Almodóvar. In >Heaven< liebt ein Polizist eine für den Tod Unschuldiger verantwortliche Attentäterin,  in >Hable con ella< ein Krankenpfleger eine im Koma liegende Tänzerin. Und der Zuschauer verzeiht im Bann des zum Kinobild gewordenen Mythos der Liebe dem einen die Befreiung einer Mörderin wie dem anderen die Schwängerung einer Hilflosen. Die Filme Tykwers und Almodóvars setzen die für  die Alltagsrealität gültige Moral außer Kraft. Und plädieren damit für eine andere, vielleicht umfassendere Wirklichkeit. Im Mannheimer Seminar kam bei aller Bewunderung für die ästhetische Finesse der beiden Filme auch die Skepsis gegenüber solchen Suggestionen zur Sprache, die sich dem Verdacht symbolischer Leerformeln (bei Tykwer) oder voyeuristischer Komplizenschaft (bei Almodóvar) ausgesetzt sahen. Die Ambivalenz zwischen Bilderfaszination und Bilderskepsis lässt sich auch von passionierten Kinozuschauern nicht so leicht abschütteln.

Die überraschende Produktivität der einst mit fanatischen religiösen Energien besetzten, heute fast vergessenen Fragestellung nach dem Status, der Funktion und der Kontrolle der Bilder wurde durch den zweiten Referenten des Seminars, den Medienphilosophen Boris Groys aus Karlsruhe, noch einmal und mit einer neuerlichen Wendung bestätigt. Groys analysierte das Kino und die modernen Bildmedien als eine Maschinerie, in der der ikonoklastische Impuls des Protestantismus als eine der formgebenden Kräfte der Moderne triumphiert – eine Bildermaschine, die nicht nur immer wieder unter fast neurotischem Zwang Bilder der Zerstörung und Katastrophe produziert, sondern in der auch jedes neu erzeugte Bild das vorangegangene Bild vernichtet. In der Deutung von Groys ist die ikonoklastische Energie in die Logik der Medien selbst eingegangen. Gleichzeitig wird durch diese mediale Logik der ikonoklastische Impuls um seinen Sinn gebracht, weil es in diesem Bildersturm keine religiös aufgeladenen, sinnstiftenden und haltgebenden Bilder mehr gibt: Jedes Bild ist nur noch ein flüchtiger Moment, der einem neuen Bild Platz machen muss. Am Fernsehen, dem aktuell mächtigsten Bildmedium, lässt sich die These von Groys am leichtesten demonstrieren. Mindestens für einen Kinoenthusiasten war schon immer klar, dass das Fernsehen nicht nur ein film-, sondern auch ein bildzerstörendes Medium ist. Seine bevorzugten Formen, Nachrichten, Talkshows, Soap Operas, besetzen unseren optischen Sinn, ohne unserem Verlangen nach Bildern Nahrung zu geben.  Es sind akustische Botschaften, die unsere Augen versiegeln. In dieser Situation stellt sich die Frage nach dem Wesen des Bildes erneut. Unter Bezug auf Walter Benjamin definierte es Groys als das Jetzt und Hier eines Abwesenden. Das Kino hält zwischen Bildzerstörung und Bildschöpfung eine prekäre Balance. Und wo, wenn nicht im Kino, wäre das Jetzt und Hier eines Abwesenden deutlicher spürbar? Groys prophezeite dem Kino eine ästhetische Entdifferenzierung (durch die Verdrängung von Filmen jenseits des Mainstreams), eine künstlerische Entwertung (durch Ausdrucksformen wie die Videoinstallation, die eine auratische Inkommensurabilität entwickeln) und eine Marginalisierung durch neue, attraktive Formen medialer Kommunikation. Mindestens in diesem Glauben mochten ihm die in Mannheim versammelten, für Film und Kirche engagierten Seminarteilnehmer nicht mehr folgen.

Karsten Visarius