Logo Interfilm.
Kontakt | Zurück | | deutsche Version english version francais (Extraits)
Vorträge und Artikel
Materialien
Archiv
27.01.2003
Konjunkturen des Bösen
Der 11. September, die Rede vom Bösen und der Film
von Jörg Herrmann

Die Rede vom Bösen hat seit dem 11. September unvermindert Konjunktur. George W. Bush hat ihr zu Anfang des Jahres in seinem Bericht zur Lage der Nation einen weiteren und nicht unproblematischen Impuls gegeben, als er im Blick auf die Regime in Nordkorea, Irak und Iran von einer "Achse des Bösen" sprach. Aber nicht nur Politiker, auch Philosophen und Journalisten greifen in Post-Anschlags-Zeiten vermehrt auf die Kategorie des Bösen zurück. Worte wie "Terroranschlag" reichen offenbar nicht aus, um dem Schrecken der Katastrophe gerecht zu werden. Das Unglaubliche des Anschlags, die Tatsache, dass er alle zuvor kursierenden Vorstellungen von real möglichen Terrorakten übertraf, verlangt nach Deutungen des Geschehens, die es in einen grösseren Zusammenhang stellen.

Eine solche Deutung hat der französische Philosoph Jean Baudrillard gewagt. Seine in einem Spiegel-Interview (3/2002) geäußerte These: Die unauflösliche Verbindung des Guten mit dem Bösen gehört zu den fatalen Grundbedingungen menschlicher Existenz. Mit Rationalität ist dem Bösen nicht beizukommen, man kann ihm allenfalls nüchtern ins Auge sehen.

Moralischer Fortschritt ade? Diesbezüglicher Optimismus ist jedenfalls out. Der Trend der Skepsis ist seit dem 11. September deutlich stärker geworden. Seine neueste Pointe: "In Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg", das unlängst erschienene Buch des Soziologen Wolfgang Sofsky. Die Zivilisation, so Sofsky, habe dem Terror nichts entgegenzusetzen. Sie könne lediglich das öffentliche Vergessen beschleunigen. An Sofkys Überlegungen schließt sich die Frage nach der medialen Wahrnehmung des Terrors an, nach der Wechselbeziehung zwischen Terror und Medien.

Um dieses Thema ging es auf den "Mainzer Tagen der Fernsehkritik" im Februar diesen Jahres. Auch dort war vom Bösen die Rede. Das Böse fasziniere, so der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann, weil es die von Kierkegaard beschriebene "Angstlust" auslöse, die Angst vor dem Abgrund und zugleich die geheime Lust, sich in ihn zu stürzen. Auch die Fernsehbilder vom 11. September hätten dieses ambivalente Gefühl erzeugt. Sie ähnelten darin den Bildern des Kinos, dem Leitmedium der Angstlusterzeugung.

(Bild links: Alien 4 - die Wiedergeburt)

Die Nähe der Fernsehbilder vom 11. September zu den Angstlustszenarien des Kinos zeigte sich übrigens auch in Beschreibungen der Katastrophe, in denen auf Filmerfahrungen zurückgegriffen wurde. Die in der Zeit kurz nach den Anschlägen häufig zu hörende Wendung "wie im Film" bezog sich dabei auf konkrete Bilder, auf Filmsequenzen, die Aspekte der Katastrophe vorweggenommen hatten - etwa aus dem Science Fiction "Independence Day".

Dass imaginative Antizipationen des 11. September ausgerechnet im Film zu finden sind, hat sicher viele Gründe. Einer liegt wohl darin, daß der Film von Anfang an eine Affinität zum Abgründigen und zur Angstlust hatte, daß er die Kritik der ästhetischen Moderne an der Klassik noch einmal radikalisierte und gegenüber ihrem Kult des Guten, Wahren und Schönen das Laszive, den Schrecken und den Schock ins Bild setzte und auch setzen wollte und nach wie vor will. Film, das war von Anfang an ein gehöriger Schuß Jahrmarkt und Zauberei, da ging es von Anfang an immer auch um Ungeheuer, Verbrecher und Dämonen. Um ihren Schrecken und ihre Faszination. Um das Ungeheuerliche und um die Entgrenzung der Imagination des Destruktiven. Der Film ist in der Behandlung dieser Themen immer zugleich Ausdruck seiner Zeit, er erzählt von ihren je aktuellen Träumen und Alpträumen. Es ist darum nicht zuletzt aus zeitdiagnostischen Gründen aufschlussreich zu fragen, was das Kino der letzten Zeit - nach, aber auch vor dem 11. September - über das Böse sagt. Die aktuelle Rede vom Bösen wird so in einen weiteren Kontext gestellt.

Ins Auge springen zunächst die beiden aufwendigen Fantasy-Filme "Harry Potter" und "Der Herr der Ringe - Die Gefährten". Beide Filme passen ins Bild der Baudrillardschen Unausweichlichkeit des Bösen. Sie entwerfen einen dualistischen Kosmos, in dem der Kampf zwischen Gut und Böse bis zu seinem für den populären Film obligaten Sieg des Guten tobt. Nun existieren die Bücher, auf denen beide Filme basieren, schön länger, und die Dreharbeiten wurden lange vor dem 11. September geplant. Dennoch wirken beide Filme wie bestellt: Sie antworten mit mythologischen Ordnungen auf das Chaos und die Verunsicherung der Katastrophe. Vermutlich verdanken sie ihren Erfolg nicht zuletzt dieser Koinzidenz.

 

Dualistische Ordnungen prägen auch den Horrorfilm, der in der Regel ebenfalls auf Mythologien rekurriert und schon seit einiger Zeit wieder eine gewisse Konjunktur zu verzeichnen hat. In diese Linie gehören Filme wie "Im Auftrag des Teufels", "Das Blair Witch Projekt", "The Calling", "Der sechste Sinn" und der Klassiker "Der Exorzist" (Bild rechts) von 1973, der im vergangenen Jahr noch einmal technisch aufgefrischt und als Director's Cut erneut in die Kinos kam. Regan McNeil, ein 12jähriges Mädchen, wird darin vom Teufel heimgesucht. Nur  Exorzismus kann noch helfen. Der Hokuspokus wird von Pater Karras vorgenommen, der zugleich Psychiater ist und also moderne und vormoderne Deutungen und Therapien für Regans Zustände in seiner Person vereint. Der Exorzismus, den er zusammen mit einem teufelserfahrenen Pater veranstaltet, ist schließlich erfolgreich. Das Mädchen wird befreit. Die Padres müssen jedoch sterben.

Hartmut Heuermann hat den Film "als Paradigma des Dämonischen in der gegenwärtigen Medienkultur" gedeutet. Der Film inszeniere einen Konkurrenzkampf zwischen zwei Weltbildern, der zugunsten der Dämonologie und gegen die Wissenschaft entschieden werde. Das Neue kapituliere vor dem Alten, der Logos vor dem Mythos. In psychologischer Perspektive könne man von einer Wiederkehr des Verdrängten sprechen. In jedem Fall sei "Der Exorzist" ein Paradebeispiel für die regressiven Tendenzen gegenwärtiger Medienkultur. Die Verunsicherung durch die Anschläge vom 11. September leistet diesen Tendenzen zum Rückgriff auf eindeutige Antworten und mythologische Ordnungen, so kann man vermuten, weiteren Vorschub.

Versteht man das Böse als Metapher für Destruktivität, so wäre seine filmische Präsenz in den 90er Jahren nicht zuletzt auch als eine so vorher noch nicht gesehene Inszenierung von Gewalt zu charakterisieren. Das Besondere und zugleich Beängstigende dieser neuen Gewalt im Film ist ihre kontingente Motivlosigkeit auf der einen Seite und ihre ästhetische Instrumentalisierung im Sinne einer sensualistischen Wirkungsästhetik des Schocks auf der anderen Seite.

Ein exponiertes Beispiel: "Natural Born Killers" (Bild links) von Oliver Stone (1994). Der Film ist eine einzige Gewaltorgie, in der das mordende Liebespaar Micky und Mallory in drei Wochen 52 Menschen umbringt. Die Gewalt erzeugt Medienprominenz und bald richten sich alle Fernsehkameras auf das durchgeknallte Mörder-Duo. Stone geht es nicht zuletzt um die Wechselwirkung von Mediatisierung und Gewalt und den Verlust von Mitgefühl. Tragischerweise ist sein Film selbst Anlaß für Nachahmungstaten geworden. Der Film zeigt auch, daß das Gewaltthema mit der Identitätsfrage eng verknüpft ist, daß Gewalt als Störung der Identitätsbildung gedeutet werden kann, als verzweifelter Versuch, der Leere zu entkommen und sich durch Gewalttätigkeit die Anerkennung und Resonanz zu verschaffen, die auf anderen Wegen nicht erlangt werden kann.
Vor allem aber zeigen die Gewaltfilme der letzten Zeit immer wieder Gewalt ohne erkennbares Motiv, reine, kontingente Gewalt. Serienkiller, die grundlos morden wie in "Henry - Portrait of a Serial Killer" (1989). Die Gewalt in diesem Film ist, so Georg Seeßlen, "weder von einem Sinn gestiftet, noch produziert sie Sinn. Sie ist selbst an die Stelle von Sinn getreten".

Die Destruktivität bricht kontingent als eine Art Emergenzphänomen aus den Systemen der Gesellschaft hervor, zufällig, absichtslos. Es gibt zwar Täter, aber ihre Subjektivitäten und Motivationslagen sind unwichtig. In ihnen kommt nur etwas zum Ausbruch. In ihren Körpern verdichtet und artikuliert sich strukturell und doch diffus und kausal kaum rekonstruierbar angestaute Destruktivität. Ein Film, in dem diese Frage des systemtischen und zugleich zufälligen Bösen eine zentrale Rolle spielt, ist Michael Hanekes "71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls" (1994). Darin erzählt Haneke die Geschichte eines Amoklaufes, der durch Kleinigkeiten ausgelöst wird, der aus einer Chronologie von Zufällen hervorbricht und ebenso zufällig wie wahllos tötet. Die Tat ähnelt in ihrer Motivlosigkeit dem Entgleisen eines überkomplexen Systems. Sie läßt an Ereignisse wie das Zugunglück von Eschede denken. Solche Ereignisse und Filme konfrontieren mit der Erfahrung der Kontingenz und Absichtslosigkeit des Bösen, mit einer Qualität von Destruktivität, die auch in den Kulturwissenschaften schon seit einiger Zeit als ein in dieser Intensität bisher noch nicht präsentes und in höchstem Maße irritierendes Phänomen wahrgenommen wird. Der Publizist Florian Rötzer konstatiert: "Das absichtslose Böse oder das Systemböse ist deshalb so irritierend, weil man es nur schwer identifizieren kann, weil die Täter verschwinden und weil man es nicht in den Griff bekommen kann." Rötzer beschreibt diese neue Form der Destruktivität als eine mögliche Konsequenz der Unberechenbarkeit komplexer Systeme, wie sie durch das Ineinandergreifen von komplexen Technologien und sozialen Organisationen entstehen. Rötzers Diagnose: "Das absichtslose, systemische Böse ist nicht böse genug, um es als Gegner identifizieren, ausgrenzen und bekämpfen zu können: Es geht mitten durch uns hindurch."

Man könnte auch von einer neuen Ubiquität des Techno-Bösen sprechen. Ein  Beispiel aus dem Science Fiction-Genre kann diesen Aspekt in spezifischer Weise akzentuieren: die vorerst letzte Folge des Alien-Zyklus "Alien - Die Wiedergeburt" (1997). Darin wird die Heldin Lieutenant Ripley aus einem Blutstropfen zu neuem Leben erweckt. Und mit ihr das Wesen aus dem All. Waren in den drei vorangegangenen Filmen die Rollen klar verteilt und Ripley die Hauptgegenspielerin der Aliens, so verschmelzen Mensch und Monster in diesem Film in verschiedenen Varianten zu einer neuen Einheit. Ripley denkt und fühlt wie ein Mensch, aber ihr Blut besteht wie das der Aliens aus Säure. Von den Aliens wird Ripley als Verwandte angesehen. Es gibt keinen Ausweg, könnte man den Film deuten. Das Böse ist in uns und unter uns. Wir können es nicht ausgrenzen. Wir können nur um seine Existenz wissen und mit ihr rechnen.

Diese Sicht, die Destruktivität als eigene Möglichkeit wahrzunehmen, ist der  christlichen Sündenlehre verwandt. Danach sind wir immer auch auf uns selbst verwiesen. Das systemische Böse ist im System, aber eben auch in uns selbst, den Teilsystemen. Und diesen eigenen Anteil, die subjektive Möglichkeit zum Bösen können wir wahrnehmen. Diesen Anteil auszugrenzen und zu leugnen, ist hingegen gefährlich und überläßt die Destruktivität sich selbst.

Wir können auch den 11. September in dieser Perspektive lesen: als eine Wiederkehr des Ausgegrenzten, in diesem Fall eines angesammelten Amerika-Hasses, der sich so einkapseln und aufbauen konnte, weil er nicht mehr kommunizierbar war und zudem durch religionskulturelle Faktoren zusätzlich stimuliert und immunisiert war. Dabei spielte eine dualistische Weltsicht und die wahnwitzige Hoffnung auf ein jenseitiges Paradies eine wichtige Rolle.

Das Ausgegrenzte wieder kommunizierbar zu machen, ist wohl der einzige Weg, der auf die Dauer helfen kann, vorhandene Hass-Potentiale in zivilisierte Bahnen zu lenken. Dass Religion hier einen erheblichen Einfluss haben kann, konstruktiv wie destruktiv, ist deutlich. Der Glaube etwa, sich mit einem Selbstmordattentat ins Paradies bomben zu können, fördert mit Sicherheit die Bereitschaft zu einer solchen Tat. Ebenso eine Sicht der Weltgeschichte, in der die Guten und die Bösen, die Freunde und die Feinde eindeutig identifiziert sind. Die Dekonstruktion dualistischer Traditionen ist darum nach wie vor bitter notwendig. Darauf macht uns nicht zuletzt die Wiederkehr des Bösen im politischen, philosophischen und medienkulturellen Gegenwartsdiskurs aufmerksam, insbesondere in ihren mythologischen und regressiven Spielarten in Politik und Film. Je mehr wir das Böse nur im Anderen, im Feind oder im Jenseits verorten, desto mehr überlassen wir es seiner Eigendynamik. Und dann sind wir gerade nicht in der Lage, es in den Griff zu bekommen. Der Psychoanalytiker Christian Schneider schreibt: "Das Böse ist die Unmenschlichkeit des Menschen, die wir im Anderen erkennen. Man kann es verharmlosen, bestreiten oder anerkennen. Nur eines nicht: Man kann es nicht bewältigen, solange wir es prinzipiell, aus Gründen des Selbstschutzes, nicht auch bei uns sehen."