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1.9.2002
Kino hat mit mir persönlich zu tun - Existenz und LebensGrundGefühl in Film und Theologie
Weiterbildungskurs “Piazza Grande”, für Pfarrer am 55. Internat. Filmfestival Locarno 2002
Statement von Olaf Schmalstieg, Bellinzona


These: Der ernsthafte Film (dazu gehören auch Filmkomödien) lädt die Betrachtenden zu einem ernsthaften Dialog ein und führt sie zur Auseinandersetzung mit sich selbst. Dabei werden existenzielle Grundgefühle wie Erschrecken, Freude, Erkennen und Lachen aktiviert, die das Kino theologisch relevant werden lassen. Es wird gleichzeitig explizit oder implizit theologisch.

“Existenz”: Was für einer bin ich?

Kino hat mit mir zu tun. Theologie, Glaube und Religion auch. Wir stossen mit der Frage nach dem Ich auf den für mich theologisch schlüssigsten und sensibelsten Punkt. Es geht bei dem Stichwort der Existenz und des Existenziellen um das Erleben der jeweils eigenen Person vor einem anspruchsvollen theologischen oder philosophischen Horizont. Um es etwas weniger kompliziert als Kierkegaard oder Sartre auszudrücken, könnte man vom Zu-Sich-Kommen reden oder von Ich-Findung und damit die intensive Auseinandersetzung mit dem bezeichnen , der ich bin oder der ich war oder der ich sein möchte.
Um zu schildern, was mich im Blick auf das Kino auf die Spur gebracht hat, will ich zunächst keine Filmtitel und keine Reflexionen von Godard zitieren, sondern kurz eine persönliche Beobachtung einflechten.

Ich bin schon seit einiger Zeit auf das Phänomen gestossen, dass mir im Kino mit Abstand am leichtesten die Tränen kommen. In Kirchen gelingt mir das Weinen fast nie, auch bei Abdankungen seltener als bei anderen Gelegenheiten. Im Kino funktioniert es wunderbar. Ich weine über Unrecht und Verletzungen, die sich vor meinen Augen auf der Leinwand abspielen, über Erinnerungen, über unerwartete Zärtlichkeiten, über Trennungen und das unverhoffte Wiedersehen. Dabei stosse ich auf eine der spannendsten Fragen meines Lebens: warum gelingt mir das Trauern mit Tränen bei dieser oder jener Situation, auf was oder auf wen reagieren meine Gefühle so heftig und diesmal ohne Hemmung?

Männer- und Frauenrollen, Frauen- und Männerbilder laden im Kino zur Identifikation bzw. zur Auseinandersetzung ein. Wir nehmen ein Angebot von Rollen wahr, Personen, die sympathisch, verführerisch sind oder einladend widerborstig. Harpo Marx oder Woody Allen oder Michel Simon, Romy Schneider, Marylin Monroe oder Jean Seberg oder all die Nicht-Stars, die sich der Film von der Strasse holt und dazu die breite Skala von real existierenden Menschen, die im Dokumentarfilm porträtiert werden. Einige davon ermöglichen besonders intensive emotionale Abläufe.

 

Offensichtlich stellt das Kino existentielle Fragen, also Fragen, die ans Eingemachte gehen, es stellt überhaupt  mich und mein alltägliches Existieren in einem geschützten Raum zur Diskussion. Bereits in relativ banalen Filmen aus der Sparte des Spannungskinos werde ich mit Fragen an mein Selbstverständnis konfrontiert. Natürlich kommen einem hier zuerst die ausgesprochen philosophischen Filme in den Sinn, Charles mort ou vif von Alain Tanner, Fellini, Pasolini, Godard, die Russen usw. Aber auch das klassische Hollywoodkino mit seinen übergrossen Frauen und Männern, die sich gegen alle möglichen Widerstände durchsetzen, sogar die grossen Westernhelden stellen die existenzielle Fragen von Tod und Leben, ebenso all die weiteren unermüdlichen Kämpfer für das Recht und die Gerechtigkeit bis hin zu James Bond.  Solche Filme fragen unerbittlich: Und wo bist, wo stehst und bleibst Du? Warum bist du nicht so ein ganzer Mann, warum bist du kein Robin Hood, kein Erfolgstyp, warum willst du es gar nicht sein, hältst dich an Antihelden wie Woody Allen fest und rufst so gern mit Dürrenmatt und Brecht aus: „Wehe der Zeit, die Helden nötig hat?“

Jeder Film bietet eine Rollen- und Bilderauswahl, für die wir uns spontan entscheiden, in die wir uns hineinziehen lassen oder die wir reflektieren, gegen die wir uns u. U. wehren. Wie weit bin ich Charles mort ou vif oder der Stadtneurotiker, wie sehr finde ich mich z.B. gerade nicht in den Erfolgsmenschen, sondern in all den Suchern und Fahrenden, den Spielern und Zweifelnden wieder, die mir auf der Leinwand begegnen? Wie weit identifiziere ich mit dem Misslingen von Projekten, wie sehr bin ich süchtig nach dem Gelingen, wie fest sehne ich mich nach weite-rem Aufbrechen oder bin ich  berührt vom  Scheitern, vom Abbrechen, vom Zerbrechen?
Ich habe die  Fragen so formuliert, dass sie nicht mehr weit entfernt sind von einem Zentrum der Theologie, vor allem der reformatorischen.

“Rechtfertigung”: Wie bin ich?

Bekanntlich hat die Reformation unter dem Stichwort der Rechtfertigung um die Frage nach dem Intimverhältnis von Mensch und Gott gerungen. Die Formeln, die dafür ge-braucht wurden, sind heute oft nur noch schwer nachvollziehbar: „iustificatio“, „gerecht vor Gott“, „sola gratia“ - allein aus Gnaden erlöst oder angenommen, „simul iustus et peccator“ usw. Im Kern der Sache geht es dabei um das Misslingen der Selbsterlösung und der Gottesbeziehung. Rechtfertigung ist die geschenkte Erlösung und die wiederhergestellte Gottesbeziehung.  Theologisch gesprochen geht es um Sündenerkenntnis und die Überwindung des Sünderdaseins einzig durch die vergebende und heilende Aktivität Gottes.  In einer Sprache, die näher am Alltag ist es geht um Dinge, die uns recht vertraut sind: das Gefühl, „neben den Schuhen zu stehen“ oder, wie Benn es formulierte, um das „Verlorene Ich“ und die Sehnsucht nach der Ü-berwindung dieses Zustands. Neben den Schuhen stehen meint, in einem unterschwelligen Sinn aus dem Gleis geworfen sein, verunsichert, heimatlos, strukturlos zu leben - und zwar  inmitten scheinbarer Sicherheit. Der „arme Sünder“ oder wie es in leider sexistisch klingender Sprache heisst: der „alte Adam“ , wird hier zum Thema des spirituellen Überlebenskampfes im Alltag. Luther betete in seinem  Morgen- und Abendgebet : „ich armer, elender, sündiger Mensch“ und umkreiste theologisch die Hauptfrage: Wie komme ich aus dem falschen Sein heraus, wie komme ich in die Schuhe hinein, neben denen ich stehe, oder reformatorisch formuliert: wie „kriege ich einen gnädigen Gott“?

Das Kino stellt diese Frage nicht direkt - aber im Alltag stellen wir diese Frage auch nicht direkt. Die Frage nach der spirituellen Befindlichkeit vermittelt sich uns durch
 Erlebnisse hindurch, durch Begegnungen, durch Infragestellungen, durch Deutungen von Sprache und Gegenständen, auf die wir stossen, gegen die wir anrennen. Genau an diesem Punkt behaftet uns das Kino. Es liefert uns Gegenstände, es liefert uns eine Bildsprache und Bilder, die uns herausfordern und auf die wir im Rahmen des „Medienangebots“, wenn ich so sagen darf, einzugehen bereit sind.

Was dabei passiert ist in der Tat ein Rechtfertigungsgeschehen. Ich möchte das kantige und allzu juristisch befrachtete Wort Rechtfertigung zunächst noch einmal griffiger zu übersetzen versuchen. Vielleicht kommen wir ihm näher, wenn wir es z.B. vom Französischen her verstehen: „ajuster“  heisst, eine Sache „justieren“, in Funktion oder ins Lot bringen. Die Justierungsschraube an einem optischen Gerät bewirkt, dass ich mit dem Apparat überhaupt erst klare Bilder sehen kann.
Ich schlage vor, in diesem Sinn die Rechtfertigung, das “iustificare” oder “iustificari”  mit der Vorstellung des „ajuster“ zu füllen, Rechtfertigung als Justieren des Menschen, nicht als Fremd- oder Selbstrechtfertigung, auch nicht als mirakulöses spirituelles Heilsgeschehen. Sondern als Arbeit am Ich in Beziehung, als intensive Beschäftigung  mit meinen Beziehungsmustern, meinem Weltverständnis usw.

Das Kino bietet uns einen Ort, an dem diese Justierung wie von selbst  zu funktionieren beginnt - vielleicht nur scheinbar mühelos. Die Justierungsarbeit geschieht, indem uns ein Film z.B. Rollen oder Themen oder Bildabläufe für unsere Suche nach dem Ich anbietet und uns dabei beglückt, erfüllt, durchschüttelt oder uns symbolisch an die Kehle geht.
Es geht dabei um den Umgang  mit unserem Alltag, um die condition humaine und wie wir uns darin bewegen. Das ganze in einer Perspektive absoluter Ehrlichkeit und Ungeschminktheit und mit der Bereitschaft, sich das Wesentliche, Entscheidende schenken zu lassen - sola fide. Das Dunkel im Kino leistet zu diesen Anläufen in Sachen „iustificatio“/Justierung gute Dienste, so sieht niemand, ob wir blass oder rot  dabei werden, lächeln oder weinen. Es macht uns bereiter als viele Alltagssituationen, ein Angebot anzunehmen, sich weit in die existentielle Auseinandersetzung hineinzubegeben - eben so weit, dass Tränen kommen und dass auch sehr viel befreiendes Lachen möglich ist.

Warum Tragödie und nicht Komödie?

Ich möchte an diesem Punkt eine Frage berühren, auf die ich mehrmals im Rahmen kirchlicher Jurys und kirchlicher Filmarbeit gestossen bin. Es ist die Frage: warum wird die existentielle Auseinandersetzung vorzugsweise im Bereich von Schmerz und Scheitern und nicht im Bereich von Freude und Lachen gesehen? Warum kommen mir zuerst meine Filmtränen in den Sinn und nicht zuerst meine Kindheitserfahrungen mit Laurel und Hardy? Warum Tragödie und nicht Komödie?
Obwohl im Anfang der Filmgeschichte Komödien wichtig waren, galt und gilt offenbar das ernste Genre als wertvoller. Für Unterricht und Unterweisung sowie für die persönliche Auseinandersetzung mussten es „allemal Problemfilme“ sein. Theologisch drängte sich die Pas-sionsgeschichte nach vorn. Unzählige Jesusfilme zehrten von der tragisch verstandenen Theologie des Kreuzes.

Pasolinis bester Jesusfilm (La ricotta) zeigte eine tanzende Maria Magdalena unter dem Kreuz, und er lässt in dem Film einen Komparsen am Kreuz sterben, der sich schlicht überfressen hat - der Film durfte in Italien nie in Kinos gezeigt werden und existiert in keiner Cinemathek. Das Komische und Spielerische wurde seit Jahrhunderten mithilfe von traditionalistischer Theologie auf verhängnisvolle Weise verdrängt. Dabei könnte das Kino eine Gegenkraft sein und es möchte das auch mit seinem breiten Angebot in der Tradition der Shakespearschen Narren, der Spieler, Komödianten und Clowns.
Ich meine, parallel dazu könnte und sollte das Komische und Spielerische mit Hilfe einer offenen, unkonventionellen Theologie neu gewürdigt werden. Die Filmkomödien aus den vergangenen Jahren könnten dabei eine hilfreiche Rolle spielen, ohne dass man dabei allerdings Chaplin und die grossen Komiker des 20. Jahrhunderts vergessen könnte.

Die Kino-Narren von Buster Keaton bis zu Woody Allen sind moderne Narren unter den Bedingungen des Licht-Spiels. Sie sind Lichtgestalten in allen Schattierungen. Charlot auf dem Auswandererschiff, Charlot in der Fabrik, Charlot und Hitler. Ihr Schein deckt Realität auf, trägt Realität vor, macht Realität erträglich.
Das Komische im Kino ist ein Mittel, die Tragik der Existenz, die Leiden und die Schuld dieses Jahrhunderts auf eine nicht-tragische Weise mitzuteilen, im Lachen zur Darstellung zu bringen und zur Bearbeitung freizugeben. Es ist ein Medium der Befreiung, es aktiviert die sozusagen andere Seite der existenziellen Auseinandersetzung.

Da die Theologie weitgehend das Lachen (auch das Lachen in der Bibel) verdrängt hat, sind von ihr nur wenige Kriterien zur Hand, das Komische in der Kunst und im Leben positiv zu würdigen. Zur Kinotheologie müsste gehören, das Lachen in der Bibel wiederzuentdecken, Abraham und Sara sind die Urahnen (in meinem Buch “Saras Lachen”, 1999, habe ich versucht, einige Linien auszuziehen). Gleichzeitig wäre die christologisch gedachte Erlösung  im Blick auf das befreiende Lachen und das Lachen der Befreiten anzuwenden und mit der aktuellen Kultur in Zusammenhang zu bringen. Der Alttestamentler Wilhelm Vischer hatte in seiner Nachdichtung von Ps 79 (KGB Nr. 80) die exzessive Formulierung gewagt: “Von Lachen unser Mund wird überschäumen“ -  eine tragfähige Basis ist in unseren Traditionen vorhanden, man muss sie nur aktivieren. Das Kino hilft hier weiter.