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9.10.2002
Postkoloniale Ansichten - Filme bewegen Bildungsprozesse
Festvortrag zu 30 Jahre Fernsehworkshop Entwicklungspolitik

von Astrid Messerschmidt

Postkoloniale Zustände

Wer unsere Zeit als eine postkoloniale bezeichnet, spricht von Vergangenheit und Gegenwart. Die Voraussetzungen der gegenwärtigen Globalisierung, die Vorgeschichte unserer wirtschaftlichen und kulturellen Weltgesellschaft, die nach wie vor eine geteilte ist, kommen darin zum Ausdruck. Die Kennzeichnung „postkolonial“ verweist auf die Nachwirkungen kolonialer Beziehungen, ohne zu behaupten, wir lebten nach wie vor in einem kolonialen Zeitalter. Das Präfix „post“ zeigt nicht an, dass etwas überwunden und hinter sich gelassen worden sei, sondern dass die koloniale Erfahrung sich in der Gegenwart spiegelt.

Die postkoloniale Gegenwart ist eine Gegenwart der Migrationen; es ist die Gegenwart der Wanderarbeiter und Flüchtlinge, die in den Zentren wirtschaftlicher Prosperität nach einer besseren Möglichkeit des Überlebens suchen. Sie erzählen von der postkolonialen Erfahrung – von Versuchen, aus neokolonialer Abhängigkeit herauszutreten und die Versprechen der Freiheit ernst zu nehmen: das Versprechen des Wohlstands durch Arbeit, das Versprechen der Gleichheit und die Verkündungen, den Rassismus überwunden zu haben und ihn nur noch als historisches Relikt einer verblendeten Epoche zu anzusehen. Sie müssen die Erfahrung machen, dass diese Versprechen nicht für alle gleichermaßen gelten und letztlich nicht so universal gemeint sind, wie sie propagiert werden.

Postkoloniale Diskurse, wie sie durch die anglo-amerikanischen cultural studies angeregt nun langsam auch in den hiesigen Sozial- und Kulturwissenschaften auftauchen, werden auch im Medium Film geführt: Wenn von den Diasporakulturen der MigrantInnen erzählt wird, wie z.B. in den Filmen von Claire Denis (>Ich kann nicht schlafen<) oder in der Satire >East is East< von Damien O`Donnell oder bei Fatih Akin (>Kurz und schmerzlos<). Wenn das Leben der Arbeitsmigrantinnen geschildert wird wie in >Marie-Line< von Mehdi Charef, der uns in den Alltag einer Putzkolonne in einem französischen Supermarkt hinein führt. Auffälligerweise spielen die postkolonialen Filme nicht auf den Territorien der früheren Kolonien, sondern in den Wohlstandszentren des Westens, wo nicht alle teilhaben an eben dem Wohlstand, der alle anzieht. Anstatt – wie oft von den sog. „3.Welt-Filmen“ erwartet wurde – die authentische Welt des Südens vorzuführen, kommentieren die Protagonisten dieser Filme den Westen, in dem sie als Arbeitskräfte gelandet sind. Wir erfahren also von ihnen etwas über unsere eigene Welt, die wir nur aus begrenzten Perspektiven kennen. Die Perspektive derer, die nachts den Supermarkt putzen, ist uns mindestens so fremd wie ein unbekanntes Land. Und aus der Perspektive derer, die illegal in unserem Land leben und jeder Sicherheit wie auch jedes Rechts beraubt sind, wird ein fremder Blick auf unsere Gesellschaft geworfen – ein Blick, der nur deshalb fremd ist, weil die Erfahrung der Illegalität sicher eines der Tabus unserer sich sonst so tabufrei gerierenden Zeit ist. 


                 >East is East< von Damien O'Donnell

Die Grenzen zwischen den Welten sind keine territorialen oder nationalstaatlichen mehr. Die eine Welt ragt in die andere hinein. Deshalb können wir auch nicht mehr von den Filmen „des Südens“ oder jenen der „Dritten Welt“ sprechen. Die postkolonialen Filme können überall spielen, wo die Vagabunden der globalisierten kapitalistischen Zustände ihr Überleben versuchen zu organisieren. „Die `Dritte Welt` verschwindet im Prozess der Vereinheitlichung des Weltmarktes nicht wirklich, sondern tritt in die `Erste Welt`, in deren Herzen als Ghetto, Barackensiedlung oder Favela ein, wird immer wieder produziert und reproduziert“, schreiben Antonio Negri und Michael Hardt in „Empire“ (S. 265). Umgekehrt schiebt sich die „Erste Welt“ in die „Dritte“ mit ihren Transnationalen Konzernen und Banken. So ist der Weltmarkt das Terrain der postkolonialen Existenz.

Vergangenheit und Gegenwart
 
Postkoloniale Diskurse sind auch Diskurse des Erinnerns und der historischen Aufarbeitung. Sie fügen der notwendigen Diskussion um das Erinnern an Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein Thema hinzu, das ein Schattendasein im historischen Bewusstsein besonders hierzulande führt. – die Erinnerung an die Verbrechen der kolonialen Epoche. Das Genre des Dokumentarfilms bietet für die postkoloniale Erinnerungsarbeit, die in unseren Breiten erst beginnt und noch wenig Anerkennung hat, ein Forum. Raoul Pecks erster Lumumba-Film von 1991, >Lumumba – La Mort d`un Prophète<, ist geradezu ein Prototyp eines postkolonialen Erinnerungsdiskurses. Er beginnt in  Brüssels U-Bahnen und kehrt immer wieder vom Kongo auf die belgischen Straßen zurück, in die Gegenwart einer oberflächlichen Geschichtslosigkeit, unter deren Fassaden das koloniale Verbrechen filmisch sichtbar gemacht wird. Die poetischen Kommentare Raoul Pecks konfrontieren uns mit der Trauer um einen nicht betrauerten Verlust.

Einen anderen Zugang zur Rekonstruktion der Kolonialgeschichte findet der Spielfilm >Little Senegal< von Rachid Bouchareb. Zwar versucht der Protagonist, seine Familie zu rekonstruieren und wird dabei bis in die Zeiten der Sklaverei, an die Stätten der Deportation und der Zwangsarbeit geführt. Aber letztlich landet er in der Gegenwart. Und so erzählt der Film von den Menschen in „Little Senegal“ mitten in New York, von den Nachkommen der Sklaven, die sich als Amerikaner verstehen und doch nicht als solche akzeptiert werden, von ihren   Versuchen, das Afrikanische und die Geschichte ihrer Demütigung hinter sich zu lassen. Nachgezeichnet werden die Lebensverhältnisse heutiger Afroamerikaner aus der Perspektive ihrer afrikanischen Herkunft und der zerstörerischen Folgen der Sklaverei. Der frankoarabische Regisseur Bouchareb  reflektiert das Versprechen der Verwandtschaft und die Fragilität des afrikanischen kulturellen Erbes.

Filme sind Medien der Erinnerung und bilden ein bewegtes und unabgeschlossenes Archiv des kulturellen Gedächtnisses. Allerdings unterliegt dieses Gedächtnis den globalen Dominanzverhältnissen. Postkoloniale Filme, die der historischen Erfahrung kolonialer Herrschaft nachgehen, intervenieren innerhalb eines partiellen Gedächtnisses und klagen eine noch weitgehend vermiedene Aufarbeitung ein. Filme wie >Lumumba< und >Little Senegal< richten unsere Aufmerksamkeit auf marginalisierte Vergangenheiten. Ich sehe sie im Kontext einer begonnenen und sich hoffentlich verstärkenden Diskussion um den europäischen Gedächtnisrahmen, wie sie durch den nigerianischen Schriftsteller Wole Soyinka vorangetrieben wird, der das Erinnern des transatlantischen Sklavenhandels und kolonialen Verbrechen als eine „unerledigte Angelegenheit zwischen Afrika und Europa“ (Soyinka, 2001, 132) begreift und zu einer Auseinandersetzung mit der Politik der Wiedergutmachung in diesem Bereich auffordert, worin er eine „überzeugende Kritik der Geschichte“ sieht (ebd., 90).

Postkoloniale Geschichten im Film

Das Kino ist voll von Geschichten, die von der Mühe handeln, dort dazu zu gehören, wo das Leben leichter, angenehmer und komfortabel ist. Geschichten, die von der Mühe handeln, von dort weg zu kommen, wo es sich kaum oder nur um den Preis endloser Kämpfe leben lässt.

Filme, die Geschichten postkolonialer Erfahrung erzählen, tun das auf ganz subtile Weise und ohne eine bestimmte Botschaft. Sie erzählen einfach eine Geschichte von den Bedingungen des Überlebens und von der Kunst zu überleben, aber in dieser Geschichte spiegelt sich etwas von den globalen Verhältnissen. >Ali Zaoua< von Nabil Ayouch führt uns auf die Straßen Marokkos, wo die 12jährigen Chemkaras, die Straßenkinder, sich in Banden organisieren, wo rivalisierende Gangs aufeinander treffen, die ihre eigenen Gesetze haben. >Ali Zaoua< ist auch ein Film über das Leben mit Darstellern, die tatsächlich Straßenkinder in Casablanca sind. >Blinder Passagier< von Ben van Lieshout beginnt zwar in Usbekistan, spielt aber in den Niederlanden, dort, wo Orazbaj als blinder Passagier ankommt, im Glauben, nun in Amerika zu sein. Glückliche Zufälle lassen ihn dort vorübergehend einen Platz in einer Familie finden, für die der Fremde auf eine beinah märchenhafte Weise beginnt dazu zu gehören. Gegen die Kälte der illegalen Migration stellt van Lieshout die Erfahrung einer Beziehung, die allerdings dann von den Behörden durch Abschiebung beendet wird und daher doch kein Märchen geworden ist.

 
>Blinder Passagier< von Ben van Lieshout

In >Black Dju Dibonga< von Pol Cruchten macht sich der 20jährige Dju auf die Suche nach seinem Vater, der als Hafenarbeiter in Luxemburg lebt und nur einmal im Jahr zu seiner Familie auf den Kapverden kommt. Wir machen eine guided tour durch Luxemburg und sehen die Plätze der Wanderarbeiter, die Baustellen und Wohnheime, in denen alle nur mit dem Gedanken an einen anderen Ort leben. Es ist ein Film über Menschen, deren Stärken und Qualitäten in der Welt, in der sie leben, nicht gefragt sind. Sie sind Fremde und Außenseiter. Und doch sind alle diese Filme keine Anklage gegen die falsche Welt. Es geht nicht um Erfolg oder Scheitern, Rettung oder Untergang. Entscheidend ist die Lebenshaltung der Protagonisten. Sie widersetzen sich beinah sanft den Umständen, sie sind desillusioniert, aber weder zynisch noch resigniert.

Die genannten Filme konfrontieren uns mit unseren Lebensbedingungen. Es sind keine Medien des Jet Sets, die uns Grenzen überspringen lassen. Sondern sie lassen uns eher auf Grenzen stoßen. Zwar haben wir etwas davon gesehen, wie die Straßenkinder in Marokko leben, aber wir wissen es nicht und der Film behauptet auch nicht, uns darüber aufgeklärt zu haben. Zwar haben wir gesehen, wie jemand völlig beziehungslos in einem unbekannten Land ankommt. Aber der Film beansprucht nicht, uns darüber informiert zu haben. Er hat nur eine Geschichte erzählt – ohne Authentizitätsnachweis. Transportiert wird keine bereits im voraus feststehende und berechenbare moralische Botschaft, denn hier werden keine Schablonen von Opfern und Tätern angelegt. Eher sehen wir Menschen, die nicht in die vorgegebenen Ordnungsmuster hinein passen, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort sind und weil sie vermutet hatten, an diesem Ort müsse es besser sein als an dem, von dem sie kommen. So bricht Orazbaj in >Blinder Passagier< aus seiner usbekischen Heimat am Aralsee auf, der zu 70% ausgetrocknet ist, was die Lebensbedingungen der Menschen dort extrem erschwert. In den Niederlanden erlebt der Protagonist Menschen mit ganz anderen Problemen, Nöten und Sehnsüchten, und er kommt zu dem Schluss: „Es ist nicht so verschieden hier. Und es kann eigentlich nicht schlimmer werden.“

Zonenansichten

Wenn Filme Fenster zur Welt sind, die  uns ermöglichen, in unserer Provinz etwas zu sehen, was jenseits unserer Provinz ist, dann sind sie ein ideales Medium im Zeitalter der Globalisierung. Sie sind dies aber nicht, weil sie uns die Welt zeigen, sondern paradoxerweise gerade deshalb, weil sie uns die Illusion verweigern, an der Erfahrung anderer teilzuhaben und die Kämpfe anderer für unsere eigenen zu halten. Sie verweigern uns die Haltung der Touristen, überall sein zu können und alles authentisch gesehen zu haben. Innerhalb unserer Zone der westlichen Welt sind wir alle potenzielle Touristen, die in der Zeit leben und die Zeit ausfüllen, um in der Zeit erfolgreich zu sein. So unterscheiden wir uns von den anderen, die an den Raum gefesselt sind und diesen aus Not und Zwängen verlassen, nicht um die Welt zu sehen, sondern um zu überleben. Zygmunt Bauman nennt sie die „Vagabunden“.

Der Film ist kein touristisches Ereignis. Wohin uns auch seine Geschichte führt, so sitzen wir doch am Anfang und am Ende immer noch im Kino. Und wenn das Licht angeht, befinden wir uns statt in Marrakesch doch wieder in Neustadt. Genau hier bietet der Film die Möglichkeit, Bildungsprozesse zu initiieren und in einen Reflexionsprozess einzutreten. (Allerdings hat das Kino hier bessere Möglichkeiten als das Fernsehen, da der Kinofilm kollektiv gesehen wird und so am Ort selbst und zu einem gemeinsamen Zeitpunkt Kommunikation stiften kann.) Die Bedingungen unserer Wahrnehmung, die Provinz, aus der heraus wir die Welt sehen, bilden den Kontext dieser Bildungsprozesse. Entgegen der Botschaft von der global vernetzten Welt kann die Filmerfahrung eine Erfahrung der Zone werden. Die Zone steht für ein Territorium, dessen Grenzen unseren Horizont markieren. Die Zone formiert unseren Blick, lässt vieles fremd und unverständlich erscheinen; sie ist begrenzt und umstellt von den Privilegien einer gesicherten Existenz. Sie ist genau der Ort, an dem die Vagabundengeschichten ihren Unterhaltungswert haben. Denn es besteht zunächst keine Gefahr, selbst zu einem jener Vagabunden zu werden. Die Zone der Kinozuschauer und vielleicht mehr noch die des Fernsehens ist eine sichere Zone. Damit ist sie grundsätzlich anders als die Zonen derer, die auf der Leinwand und auf dem Bildschirm abgebildet werden.

Genau diese Differenz ist der Kontext einer Bildungsarbeit, die den Verkündungen der „Einen Welt“ immer die Erfahrung der geteilten Welt gegenüberstellt. Es handelt sich um eine Haltung der Kritik, d.h. der bestimmten Negation, entgegen jedem beschwichtigenden Versprechens, den besseren Zustand schon erreicht zu haben. Unsere Perspektive ist begrenzt von der privilegierten Position der früh industrialisierten Länder. Ich habe versucht, diese Beschränkung mit dem Begriff der Zone zu beschreiben. Zone ist keine Metapher, sondern ein Begriff, mit dem wir auf unseren eigenen Kontext verwiesen werden. Unsere privilegierte Position bedingt den Blickwinkel, unter dem wir die Filme des Südens und die Filme der postkolonialen Migranten sehen. Dabei weist der Film eine paradoxe mediale Struktur auf: Gerade weil der Film ein Medium der Illusion ist, lässt er uns nicht im Unklaren über den illusionären Charakter unserer Teilhabe an dem Schicksal seiner Protagonisten, an ihren Kämpfen, ihrem Scheitern und ihren Glücksmomenten. Die Illusionsmaschine wird zum Medium der Desillusion. Am Ende des Films sind wir mit den Bedingungen unseres Sehens konfrontiert. Dies kann der Ausgangspunkt kommunikativer Bildungsprozesse sein, die sich allerdings nicht von selbst einstellen, sondern Anregung und Moderation brauchen. Sie brauchen ein Setting, das die Reflexion fördert und einen Austausch über die Erfahrung des Sehens ermöglicht.

Das Medium Film wird in Jugend- und Erwachsenenbildung oft eingesetzt, um damit Grenzen zu überwinden und den Abstand zu überbrücken zwischen den geteilten Welten. Ich meine aber, dass das Medium Film uns demgegenüber gerade mit dem Abstand konfrontiert und auf die Teilung der Welt verweist. Der Film lässt uns in unserer eigenen Zone zurück. Er konfrontiert uns mit der postkolonialen Situation, in der nicht einfach alles sich wunderbar vermischt und alle prima vernetzt sind. Eine Situation, in der nicht endlich alle Verschiedenheit in einem allgemeinen Multikulti aufgeht, sondern die eine Situation geteilter Welten ist und tiefer Gräben zwischen Arm und Reich, Süd und Nord. Allerdings kann die Teilung der Welt mitten durchs eigene Land hindurch gehen. Nirgendwo habe ich das deutlicher filmisch reflektiert gesehen als in >Nachtgestalten< von Andreas Dresen. Lakonisch erzählt Dresen von Überlebenskünstlern in Berlin, unvergesslich die Geschichte von dem kleinen Angestellten Peschke, der ungewollt und anfangs widerwillig dazu kommt, sich um einen afrikanischen Jungen zu kümmern, der am Flughafen nicht abgeholt wurde. Eine Berliner Nacht wird zum Schauplatz kleiner und großer Nöte, Regelverletzungen und unkonventioneller Begegnungen. Dresen sagt, dass sich in seinem Film die Polarisierung unserer Gesellschaft im Zeichen des propagierten Neoliberalismus spiegelt. Dresens Prinzip für einen sozialkritischen Film scheint zu sein, dass man die Personen lieben muss, um sie lebensgetreu abzubilden. Für die meisten Menschen, die uns in dieser Nacht in Berlin begegnen, ist das Leben ziemlich mühsam, anstrengend und gefährlich. Dauernd verlieren sie etwas. Was sie gewinnen, ist nur ganz kurz und vergänglich. Zwar klagt der Film nicht an, doch plädiert er für die Präsenz dieser Leute in der Stadt und scheint zu sagen: sie sind die Stadt, sie geben der Stadt ihr Gesicht. Ich verstehe >Nachtgestalten< daher auch als ein Plädoyer gegen die saubere Stadt.


>Nachtgestalten< von Andreas Dresen

Filme bewegen Bildungsprozesse

Filme als Medien für Bildungsprozesse zu verstehen, erzeugt oft das Missverständnis, es ginge darum, den Film didaktisch so aufzubereiten, dass er dem zugrunde liegenden Bildungsgedanken entspricht. Dies würde aber das Medium Film als künstlerisches Produkt gerade verfehlen und wirkt nicht nur für Cineasten absolut abschreckend. Demgegenüber gilt es, den Film zur Wirkung kommen zu lassen und ihn nicht pädagogisch abzudecken. Es zeugt zudem von einem verzerrten Bildungsverständnis, wenn Bildung als Vermittlungsproblem aufgefasst wird. Bildungsprozesse verstehe ich demgegenüber vielmehr als Prozesse der Irritation und einer daraus erfolgenden Selbstreflexion, die nicht eine innerpsychische Selbstbeschau meint, sondern eine Auseinandersetzung mit der eigenen Integration in Herrschaftsverhältnisse.

Der Film hat als künstlerisches Medium nichts von seiner Popularität eingebüßt. Auch der angebliche Siegeszug der Neuen Medien hat das traditionelle Medium Film nicht in den Hintergrund gedrängt. Der Film mit seinen vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten des Erzählens kann Anstoß und Grenze von Bildungsprozessen sein. Grenze vielleicht gerade deshalb, weil sich die künstlerische Botschaft der Kommunikation und Verständigung entzieht, nicht zu erklären und zu vermitteln ist, sondern nur in einem Augenblick erlebt wird, dessen Besonderheit gerade darin besteht, unbeschreiblich zu sein.

Für diejenigen, die Filme in Jugend- und Erwachsenenbildung einsetzen ist zu fragen, wie diese Bildungskontexte selbst zu beschreiben sind. Längst sind Orte der Bildung nicht mehr die klassischen Orte organisierter Lernprozesse. Fernsehen und Kino sind Orte, an denen Weltbilder gesucht und gefunden werden. Konsequenterweise haben sich in vielen Städten Einrichtungen der Erwachsenenbildung ins Kino begeben. Das Kino als Ort der Erwachsenenbildung zu begreifen, erfordert eine Sensibilität für das Setting dieses Ortes. In den in manchen Städten entstandenen „Alle Welt Kinos“ sehe ich Ansätze, dies zu realisieren. Erwachsenenbildnerinnen und Filmfreaks treffen hier zusammen, um das Programmkino mitzugestalten. Dabei wird versucht, durch Einführungen und Diskussionen zu einer Auseinandersetzung mit dem Film einzuladen, ohne diesen zu didaktisieren. Die Zusammenarbeit zwischen denjenigen, deren Profession es ist, Bildungsprozesse zu initiieren und denjenigen, die Kinoprogramme machen, ist spannungsvoll und gerade deshalb produktiv, weil jeder mit seinen Beschränkungen konfrontiert wird. Es handelt sich um eine Gratwanderung zwischen ästhetischen Kriterien, inhaltlichen-thematischen Interessen und kommunikativen Anliegen. Wie dies miteinander zu vermitteln ist, macht einen interessanten Aspekt öffentlicher Bildungsarbeit mit dem Medium Film aus. Zudem verlangt diese Arbeit eine Spontaneität im Eingehen auf das Publikum, das als Zielgruppe immer unkalkulierbar bleibt und sich zufällig zusammensetzt. Gerade die Tatsache, dass von einem Film ganz andere Leute angezogen werden, als erwartet, macht ja den Reiz der Filmpräsentation aus.

Die Arbeit der Alle Welt Kinos hat aber auch eine politische Seite innerhalb des umkämpften Medienmarktes. Es werden Filmreihen von FilmemacherInnen organisiert, die auf dem internationalen Filmmarkt kaum Chancen haben und nur durch Programmkinos überhaupt sichtbar werden. Dazu gehören vor allem Filme aus Afrika, aber auch aus Lateinamerika, Ost- und Mitteleuropa, Zentralasien – sozusagen aus der 2/3-Welt. Das Kino ist fragmentarisch statt global, es ist zonal privilegiert und beschränkt, und es regelt und verteilt seine Produkte über den Markt, nicht aber nach künstlerischen Kriterien. Sollen Einblicke in das Filmschaffen der nichtwestlichen Welt ermöglicht werden, dann bedarf es eines besonderen Engagements für diese Filme. Andernfalls bleiben wir auch bei Film und Fernsehen in unserer Provinz des Sehens stecken und werden nicht einmal mehr konfrontiert mit den Kamerablicken anderer gesellschaftlicher Kontexte und Erfahrungsräume.

Ein Engagement für die Filme und FilmemacherInnen der 2/3-Welt ist zugleich ein Engagement für eine Ästhetik der Differenz, für Erfahrungen der Differenz in Inszenierungen, Kameraführung, Schnelligkeit und Langsamkeit. Voraussetzung für dieses Engagement ist ein Bewusstsein für die Verhältnisse der Ungleichheit, die das Mainstream-Kino reproduziert und in seinen Ausschlusspraktiken gleichzeitig verschleiert, weil gar nicht erst auffällt, was fehlt. Wenn Filme Bildungsprozesse bewegen sollen, dann bedarf es über das ästhetische und inhaltliche Interesse hinaus eines politischen Engagements in der geteilten Welt des Medienmarktes.


Literatur

Bauman, Zygmunt, 1996, Glokalisierung oder: Was für die einen Globalisierung, ist für die anderen Lokalisierung. In: Das Argument, Nr. 217, S. 653-664

Hardt, Michael und Antonio Negri, 2002, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt, New York

Soyinka, Wole, 2002, Die Last des Erinnerns. Was Europa Afrika schuldet und was Afrika sich selbst schuldet. 2. Aufl., Düsseldorf
Postkoloniale Ansichten – Filme bewegen Bildungsprozesse