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6. November 2003
Zur Entwicklung des russischen Films nach 1990
Vortrag zum Interfilm-Seminar "Europas ferner Osten" in Cottbus, 6./7.11.2003

Von ANDREJ PLACHOV, Filmkritiker und Kurator des "Focus Russland" am Festival in Cottbus 2003 

Ich möchte meinen Beitrag der Rolle widmen, die das Kino im sozialen und geistigen Leben der russischen Gesellschaft spielt. Diese Gesellschaft durchlebte im XX. Jahrhundert ein grandioses soziales Experiment, auf dessen Altar sie gewaltige Opfer brachte, heute jedoch werden die Erfahrungen des Aufbaus des Sozialismus fast vollständig abgelehnt; man bemüht sich, ein ganz anderes Gebäude zu errichten – die marktwirtschaftliche Demokratie. Gleichzeitig verstärken sich nationalistische und religiöse Tendenzen, die im russischen Kino allerdings immer zugegen waren, sogar in dessen sowjetischer Hülle.

Die Bolschewiki haben als eine der Ersten die Möglichkeiten des Kinos als Agitationsmittel erkannt und erklärten es zur "wichtigsten aller Künste". Obwohl es Propaganda war, war dieses Kino doch wirklich große Kunst. Am bedeutsamsten und charakteristischsten für sein Image sind die außerordentlich expressiven Bilder der Odessaer Treppe aus dem "Panzerkreuzer Potjomkin" (Bild)  von Sergej Eisenstein. Das cineastische Ansehen Russlands wurde von Beginn an von den Grenadieren der revolutionären Avantgarde bestimmt. Der Westen war begeistert von der kühnen Schnitttechnik Eisensteins, der filmischen Poesie Alexander Dowshenkos, den ausdrucksstarken Fakturen des Lebens eines armen Landes, von der Energie und dem Umfang sowohl der sozialen Veränderungen als auch der avantgardistischen künstlerischen Projekte.

Die russische Avantgarde wurde von der Revolution gebilligt. Allerdings meine einige zeitgenössische Historiker, z.B. Oleg Kowalow, sie wäre ebenso ein illegitimes Kind der nationalen und von religiösem Messianismus angehauchten "russischen Idee". Deren Wesen besteht in der Negation der historischen Zeit – der "realen Gegenwart" und einem idealistischen Streben entweder in die wunderbare Vergangenheit oder in eine ebenso wunderbare Zukunft.

Paradoxerweise eroberte die "russische Idee" gerade in den 20er und 30er Jahren, als offiziell der kommunistische Internationalismus herrschte, das Filmschaffen völlig. Vielleicht war im russischen Kommunismus und im russischen sozialistischen Realismus mehr zutiefst russischer Messianismus als Marxismus? So wurde der Panzerkreuzer Potjomkin" mit einer flammenden Trozki-Losung eröffnet (diese wurde allerdings später durch ein Lenin-Zitat ersetzt), aber nicht weniger begründet hätte der Film mit einem Spruch aus dem Evangelium beginnen können. In Übereinstimmung mit der religiös-messianischen Idee, und nicht etwa mit dem Marxismus, fließen Ströme geopferten Blutes für den Sprung in eine harmonische Welt allgemeiner Brüderlichkeit. Auch bei Eisenstein, in "Das Alte und das Neue", gleicht der Traum von der Dorfkommune dem religiösen Wunderglauben und zeugt von dem jahrhundertealten Hang des russischen Volkes zur Erschaffung von Mythen. Und Iwan der Schreckliche aus dem berühmten Film träumt besessen von der "Stadt Kitesh" (eine sagenhafte herrliche Stadt, die in einem See versank, aus der russischen Folklore). Und für seinen großen Traum ist der Zar bereit, Köpfe rollen zu lassen und die erde mit Blut zu tränken.

Im unvollendet gebliebenen und von den Herrschenden verbotenen Eisenstein –Film "Die Beshin-Wiese" wird die Zerstörung einer Kirche gezeigt. Aber die Szene, die die Religion herabwürdigen soll, setzt selbst Mittel der religiösen Mythologie ein. Das war einer der Gründe für das Verbot des Films. Das Gleiche betraf auch das Schaffen von Wertow und Dowshenko: die soziale Mythologie in ihren Filmen ist als Einzelerscheinung einer allgemeineren, naturhaften und vorhistorischen Mythologie dargestellt. Der von den Ursprüngen der russischen Idee ausgehende geistige Kosmismus wurde von der Zensur verfolgt und rief den Unwillen der Obrigkeit und der offiziösen Kritik hervor, die sogar "Drei Lieder über Lenin" von Wertow und "Die Erde" von Dowshenko kalt aufnahm.

Wenn man sich den Erfahrungen eines anderen sowjetischen Filmschaffens – dem Grusiniens – zuwendet, kann man an den Film "Das Salz Swanetiens" von Michail Kalatosow erinnern, der verdientermaßen in die Annalen der Kinoklassiker einging. Er ist wohl voll von rein sowjetischem Pathos und setzt den Hauptakzent auf den Konflikt zwischen den Armen aus den Bergen und den im Tal lebenden Reichen, aber aus diesem Film wird auch klar, um wie viel komplizierter die Existenz unter schwierigsten Naturbedingungen ist, fern von der Zivilisation, wo den Menschen nur der Geist oder eine Idee aufrecht halten. Die kommunistische Idee sollte die Stammesidee, die Nationalidee, die christlich-religiöse Idee verdrängen. Gelungen ist ihr das aber nur teilweise und nur für eine historisch kurze Zeit.

Die Avantgarde verschwindet in der Vergangenheit und wird vom totalitären Kino abgelöst. In diesem ist die Komponente des Kults, des Religiösen noch offensichtlicher. Im "Schwur" von Michail Tschiaureli ist die mentale Verbindung zwischen dem lebendigen Gott Stalin und dem "alttestamentarischen" Hauptgott Lenin spürbar – Stalin zeichnet dessen Porträts und er erscheint ihm. Im "Fall Berlins", ebenfalls von Tschiaureli, ist ähnelt das Erscheinen Stalins vor dem Volk dem Erscheinen von Christus.

Dann endet die Epoche des totalitären Kinos, der Humanismus des Tauwetters siegt. Aber auch in vielen weiteren berühmten sowjetischen Filmen – von "Die Kraniche ziehen" von Michail Kalatosow über "Die Kommissarin" Alexander Askoldows bis zum "Aufstieg" von Larissa Schepitjko – sind Ekstatik, darstellerische Expressivität, Exaltation eines Gefühls oder einer Idee an der Grenze zum Religiösen Markenzeichen.

In der Kinolandschaft dieser Zeit nimmt der Film "Das Gebet" des Georgiers Tengis Abuladse einen wichtigen Platz ein – es ist einer der seltenen Filme, der sich mit dem Verhältnis verschiedener Ethnien in der Kaukasusregion befasst. Zum Sujet des "Gebets" wird die Konfrontation zwischen den alten Traditionen der kämpferischen Bergstämme und der humanisierenden christlichen Moral. Die Sitte der Blutrache wurde bekanntlich erfunden, um eine tödliche Kettenreaktion zu verhindern, um die Menschen auf beiden Seiten davon abzuhalten zu töten. In der Praxis konnte aber gerade eine solche Kettenreaktion manchmal nicht aufgehalten werden. Der Held des Films geht den ersten Schritt in diese Richtung: Er verweigert sich der überlieferten Tradition der Rache.

Allmählich wird das Kino Russlands ruhiger, epischer, sogar elegisch – in den Filmen "Krieg und Frieden" von Sergej Bondartschuk, "Ein Adelsnest" und "Onkel Wanja" von Andrej Kontschalowski, "Tage aus dem Leben Ilja Oblomows" von Nikita Michalkow. Das russische Kino strebte zurück in die Vergangenheit auf der Suche nach der verlorenen Zeit, nach dem nicht existenten, aber gerade deshalb noch anziehenderen Leben der Herrensitze und Adelsnester des mythischen zaristischen Russlands. Wobei sich auch in dieser idealisierten harmonischen Welt manchmal Platz fand für grausame Leidenschaften im Stil Dostojewskis oder sogar für Rohheiten. Jetzt wird Tarkowski mit seinem religiösen Mystizismus zum Markenzeichen des russischen Kinos für den Westen.

Die 60er Jahre wurden die letzte Periode eines organischen Optimismus. Russland hatte die Wunden des Weltkriegs geheilt. Das Lebensniveau stieg, die Industrie entwickelte sich, es gab eine Vielzahl von wissenschaftlich-praktischen Entdeckungen in der Elektronik, der Haushaltschemie usw. Die Sitten wurden lockerer und sogar das politische System wurde sozusagen vegetarisch. Neue Illusionen entstanden – vor allem auf technokratischer Basis. Science Fiction kam in Mode. Die Menschen glaubten daran, dass sie in ziemlich kurzer Zeit den Kosmos erobern, schwere Arbeit ihnen von Robotern abgenommen würde, dass die Atomenergie zu friedlichen Zwecken genutzt und alle Kardinalprobleme lösen wird.

Die Ideen der internationalen Brüderlichkeit wurden auf einem neuen Niveau wiedergeboren. Afrikanische Studenten studierten an sowjetischen Hochschulen und heirateten russische Mädchen. Trotz der Abgeschlossenheit unseres Landes funktionierte in seinem Innern doch die Vorstellung, dass innerhalb eines historisch kurzen Zeitraums eine Verschmelzung der Nationen, der Sprachen, vielleicht sogar der Rassen stattfinden würde. Und zwar in der ganzen Welt, nicht nur in unserem multinationalen Sowjetland.

Aber das Ende der 60er Jahre bedeutet auch das Ende der Hoffnungen auf eine allmähliche Liberalisierung des Regimes und eine Abschwächung der Zensur. Es ist ein Paradoxon, aber gerade die 60er Jahre – die leuchtendsten in der sowjetischen Geschichte - haben die größte Zahl prinzipieller Verbote durch die Zensur, von nicht veröffentlichten Filmen gebracht. Die 70er und die erste Hälfte der 80er Jahre sind schon die Epoche der offensichtlichen Stagnation, die letztlich zum Zusammenbruch des Systems und der Revolution Gorbatschows führt.

Das Leben schließt mit den Illusionen der 60er ab. Es erscheinen die ersten Anzeichen der ökologischen Krise, die ersten technologischen Katastrophen, die unheilschwere Rückseite der technischen Revolution wird sichtbar. In humanitärer Hinsicht erweist sich, dass die Ideen des sozusagen organischen Internationalismus illusorisch sind. Die ersten Merkmale der Globalisierung treten auf – mit Video, Internet und später auch dem Verleih kommen die unifizierte englische Sprache, das Hollywood-Kino und CNN nach Russland. Und Russland selbst erlebt eine Perestroika (=Umbau) nach westlichem Muster.

Die Ereignisse der letzten fünfzehn Jahre haben nicht nur das politische System des sowjetischen Staates zerstört. Sie haben auch viele Begriffe zerstört, die durchaus real und grundlegend erschienen, die aber so schnell vom Antlitz der Erde verschwanden, dass sie jetzt nur noch ein Mythos zu sein scheinen. Zu diesen Begriffen gehört auch die internationale Gemeinschaft namens Sowjetvolk. Wie sich herausstellte, konnten Frieden und eine relative Stabilität im Kaukasus nur durch Bajonette existieren – seien es nun die des Zarenreichs oder des sowjetischen Systems – durch die totale Kontrolle der Waffen und aller Menschen. Aber diese brach mit den ersten Rissen, die das totalitäre System bekam, zusammen.

Zu diesen Begriffen gehört auch die vom sowjetischen Kino geschaffene humanistische Utopie, die heute ebenso durch ein mythologisches Prisma aufgenommen wird. Das Kino, das auf den Ruinen des Systems entstand, war schon ein völlig anderes.

Das Pathos der Perestroika des Films war absolut romantisch. Seine Protagonisten wollten das Unvereinbare vereinigen: Sie riefen die marktwirtschaftliche Reformen in der Filmindustrie aus und bemühten sich gleichzeitig, den Traum der revolutionären Avantgarde von der idealen Kunst und dem idealen Zuschauer wiederzubeleben. Sie traten in der Rolle der "Rächer des Volkes" gegen die Herrschaft der Partokratie und der Zensur auf und meinten, das Volk würde sich frei entscheiden, das seichte Kino ablehnen und Tarkowski und Bergman zu seinen Idolen erheben. Es war völlig unerwartet für sie, dass das Publikum grobe Shows verlangte und die Filmschaffenden diesen Forderungen entsprechend filmten. Da sie aber hastig und unbedarft arbeiteten, dauerte es nicht lange, bis sich das Publikum völlig vom russischen Kino abwandte und sogar zweitklassiges Hollywood diesem vorzog.

Dennoch war die Revolution auf dem 5. Kongress der Filmschaffenden nicht umsonst. Sie hat das Kino von Dogmen und Verboten befreit. Und sie hat mindestens ein Jahrzehnt praktisch unbegrenzter Freiheiten gesichert. Wie die Filmschaffenden diese genutzt haben, ist eine andere Frage.

Die gesamte ältere Generation der Filmregisseure, ebenso wie die mittlere, versank in einer langwährenden schöpferischen Krise. Ausnahmen bestätigen die Regel. Das betrifft in erster Linie Alexander Sokurow. Vor der Perestroika arbeitete er halblegal ("Die einsame Stimme des Menschen") und bleibt der Künstler des russischen Kinos mit den originellsten Gedanken – und zwar gerade deshalb, weil er einer der wenigen ist, die nicht mit den Traditionen der 20er Jahre brechen und unter den Bedingjungen der digitalen Revolution unaufhörlich experimentiert (der letzte Beweis dafür ist der Film "Russian Arc"). Eine Meisterin, die ohne schöpferische Verluste sowohl die Stagnationszeit als auch die Perestroika überstanden hat, ist Kira Muratowa. Beginnend mit dem "Asthenischen Syndrom" bis zu ihrem letzten Film "Tschechow-Motive" entwickelt sie virtuos den Stil der SozArt – als eigenwillige Parodie auf den soz. Realismus.

In den 90er Jahren entstand eine Reihe durchaus wichtiger Filme: Sie sind in großem Umfang im Retrospektivprogramm in Cottbus vertreten. Allerdings hat das russische Kino in dieser Zeit nicht den machtvollen Aufschwung geschafft, den die Welt erwartete, ebenso wie es nicht vermochte, einen vollwertigen Platz in der internationalen, sich globalisierenden Kultur einzunehmen.

Die Hoffnung auf Koproduktionen (Anfang der 90er Jahre wurde jeder dritte russische Film von den Franzosen teilfinanziert, einige auch von den Deutschen) erschöpfte sich, nachdem die Mehrzahl dieser Filme wenig erfolgreich war. Seitdem rechnen fast alle neuen Projekte mit staatlicher Hilfe. Für alle reicht diese nicht, denn mit einheimischen Filmen kann man das Geld nicht wieder einspielen. Sogar die Besucherzahlen bei amerikanischen Filmen sinken in dieser Phase abrupt, die Zuschauer der aktivsten Kinonation der Welt verlernen praktisch, ins Kino zu gehen. Die Kinos bieten auch keine Anreize dafür: hohe Eintrittspreise, der traurige Zustand der Zuschauersäle, die schlechte Qualität der Bild- und Tonwiedergabe oder die Gefahren nächtlicher Ausflüge in vom Verbrechen eroberten Städten. Auch die Zahl der in Russland produzierten Filme sinkt drastisch ab – für sie sind weder Geld noch Zuschauer vorhanden.

Aus der Welle der Perestroikafilme sind nur wenige geblieben: "Taxi Blues" von Pawel Lungin, "S.E.R. - Freiheit ist ein Paradies" von Segej Bodrow sen. und "Halte still – stirb – erwache" von Witali Kanewski, in denen schwarze Töne sich mit einer starken lyrischen Kraft des Autors vereinigen. Auch die Enthüllungsfilme über die sowjetische Vergangenheit, die Schrecken des Stalinismus sind nicht mehr modern. Ein charakteristisches Beispiel: Wassili Pitschul, der Regisseur des programmatischen Perestroikafilms "Kleine Vera", dreht einen begeisterten Fernsehfilm über Stalin. Die Freiheit des Wortes, die in Russland zu Beginn der 90er Jahre faktisch unbegrenzt war, wird allmählich eingeschränkt – einerseits durch politische, andererseits durch marktwirtschaftliche Mechanismen. Die Verstaatlichung der Fernsehsender ebenso wie die Errichtung einer Kontrolle der Printmedien verringern das Niveau des Meinungspluralismus erheblich.

Die Marktzensur bestimmt auch die Situation im Filmverleih. Russische Filme gelangen bis auf wenige Ausnahmen nicht in die Kinos. In deren Repertoire überwiegt der Hollywood-Mainstream und ganze Generationen junger Leute sind schon mit ihm aufgewachsen. Die russischen Filmstars sind verblasst und nur die leuchten noch, die Zuflucht beim Fernsehen gefunden haben – im Showbusiness, der Estrade und in Serien. Serien sind der Zweig der Filmindustrie mit den höchsten Einnahmen, die sich am schnellsten amortisieren. Trotz der offensichtlichen Überlegenheit amerikanischer und europäischer Serien gegenüber russischen haben sich die Zuschauer sehr schnell für letztere entschieden. Hier wirkt eine Art Kompensationsmechanismus: Das junge Publikum geht ins Kino zu neuen Hollywoodstreifen, während die ältere Generation sich vor dem Fernsehschirm an bekannten Realien erfreut. Diese Auditorien können sich durchaus auch überschneiden, aber ganz offensichtlich haben sich zwei Kanäle der Massenfilmkultur entwickelt: ein international-globalistischer (Hollywood-Repertoire) und ein lokal-patriotischer (altes sowjetisches Kino und einheimische Serien).

Das kaukasische Syndrom hat nach wie vor starken Einfluss auf die gesellschaftliche und die kulturelle Situation des Landes. Neben Versuchen, den Tschetschenien-Konflikt pazifistisch zu beleuchten ("Gefangen im Kaukasus" von Sergej Bodrow und "Das Irrenhaus" von Andrej Kontschalowski) erscheinen solche Streifen wie "Bruder-1" und "Bruder-2" von Alexej Balabanow. Während "Gefangen im Kaukasus" zum Kinoemblem des ersten Tschetschenienkrieges wurde, widerspiegelten "Bruder-1" und "Bruder-2" den Zustand der russischen Gesellschaft während des zweiten Krieges. Die schreienden Unterschiede werden durch den Fakt, dass in all diesen Filmen Sergej Bodrow jun. spielt, nur unterstrichen.

Danila, der Held beider Filme und Ex-Held des Tschetschenienkrieges, ist heute ein abgeschlossenes Produkt der instinktiven Xenophobie, die die russische Gesellschaft ergriffen hat. Somit ist der Teufelskreis vollständig durchlaufen – vom klassenmäßigen Herangehen über die humanistische Utopie zur instinktiven Xenophobie.

Und dennoch, trotz aller Schwierigkeiten bei der Formierung einer Zivilgesellschaft in Russland, ist dieser Prozess im Gange. Und die Filmkultur spielt dabei eine wichtige Rolle. Für die Entwicklung des Films sind heute zwei Momente sehr bedeutsam: Erstens, die relative wirtschaftliche Stabilität, die es ermöglicht, langfristige Projekte zu entwickeln (im Gegensatz zu schnellgebackenen Serien) und zweitens, das Auftreten einer neuen Generation von Filmemachern ohne die Komplexe der sowjetischen Epoche und frei von den Illusionen der Perestroika, im positiven Sinne patriotisch, auf den Kontakt mit dem einheimischen Publikum eingestellt. Das schließt die Offenheit zur Welt und die Suche nach Wegen zum Erfolg im Westen nicht aus, aber dieser Erfolg ist kein Selbstzweck mehr.

Das interessanteste Beispiel dafür ist der Film "Die Rückkehr" (Bild)  von Andrej Swjaginzew, Preisträger des letzten Filmfestivals in Venedig. Was hat das anspruchsvolle Festivalpublikum, die Jury und die Weltpresse an diesem russischen Film eines unbekannten Regisseurs, eines Neulings angezogen? Die in ihm erzählte Geschichte ist ganz simpel und könnte sich scheinbar jederzeit in jedem Land abspielen. Ein Vater kehr nach langen Jahren der Abwesenheit in die Familie zurück, nimmt die beiden jugendlichen Söhne mit und versucht, sie zu Männern zu erziehen. Psychologische Konflikte, die Konfrontation der Charaktere, Kränkungen und Ansprüche führen zu einem tragischen Schluss. Das ist eigentlich alles.

Aber so einfach ist das alles nicht. Ein aufmerksamer Zuschauer bemerkt, dass die Jungen am Tag der Ankunft des Vaters eine Bibelillustration öffnen: "Abraham opfert Isaak." Die Handlung des Films verläuft innerhalb der sieben "biblischen" Schöpfungstage – von Sonntag bis Sonnabend. Die Söhne sehen den Vater zum ersten mal schlafend – wie tot. Und in dieser Szene, ebenso wie zum Schluss des Films, sieht er aus wie der tote Christus auf dem berühmten Gemälde von Andrea Mantegna. Als aber der Vater die Kinder mit dem Boot zu der geheimnisvollen Insel bringt, sieht er aus wie Charon – der Fährmann der Totenflüsse in der Unterwelt. Überhaupt erinnert er in seiner groben, wortkargen Art an einen Gast aus einer anderen Welt. Und der Film wird verstanden als ein Gleichnis auf das Schicksal Russlands, das seinen Tyrannenvater verloren hat und sich gleichzeitig nach ihm sehnt und seine Rückkehr fürchtet.

Offensichtlich gibt "Die Rückkehr" dem Westen das Bild Russlands, seiner Natur und seiner Seele wieder, das aus den Filmen Tarkowskis bekannt ist. Und in diesem Sinne erscheint es symbolisch, dass einer der Jungen Iwan heißt und der Regisseur des Films, Swjaginzew – Andrej. Denn gerade "Iwans Kindheit" brachte Andrej Tarkowski vor 40 Jahren den Erfolg in Venedig. Auch der Filmtitel ist symbolisch zu betrachten – der russische Film kehrt nach vielen Jahren der Krise in die Sphäre der internationalen Aufmerksamkeit zurück. Und er kehrt gerade deshalb zurück, weil er aufgehört hat, die eigenen Traditionen zu zerstören, sondern sie im Gegenteil nutzt.

Vielleicht ist das ja aber ein Einzelfall, die Ausnahme? Nein, das letzte Jahr brachte einige neue Filme, die meisten gedreht von neuen Regisseuren, mit neuen Schauspielern, Kameramännern, Komponisten und Produzenten. Ich führe sie an: "Koktebel" von Boris Chlebnikow und Popogrebski, "Großmütterchen" von Lidija Bobrowa, "Die Alten" von Gennadi Sidorow, "In Liebe, Lilja" von Larissa Sadilina und "Der Spaziergang" von Alexej Utschitjel.

Einige dieser Regisseure haben kein Studium an Filmschulen absolviert, andere sind nicht mehr ganz jung und haben ihre Lebenserfahrung und Energie aus den Jahren der schwierigen Vorbereitung des Debüts mit zum Drehort gebracht. In diesen Filmen spürt man Reife. Und es ist ganz wichtig, dass ihre Handlung nicht in Moskau spielt und – bis auf den "Spaziergang" – auch nicht in Petersburg. Dadurch konnten die Filmschöpfer zwei typischen Extremen des russischen Kinos entgehen – einerseits die düstere Kriminalität, andererseits der neurussische "Glamour", der üblicherweise mit dem Leben der Moskauer Elite innerhalb des Gartenrings assoziiert wird.

Die russische Provinz – diese terra incognita – hat endlich das Interesse der russischen Filmschöpfer geweckt. Und sie wird nicht nur als exotischer, farbenprächtiger Hintergrund eingesetzt, sondern als nicht versiegende Quelle von Konflikten und handelnden Personen, die ein anderes Leben leben – weit entfernt von Politik und Geschäftigkeit – die nicht leicht leben, aber doch nicht sterben und in ihrem Leben Freude und Erfüllung finden.

Eigentlich formiert sich in ihrem Verhältnis zur Erde, zum Naturkosmos und, wenn man so will, zu Gott ein zu Moskau alternatives Modell von Zivilisation und Kultur. Dieser Umschwung brachte frischen Wind in das russische Kino, führte es zur Realität. Das Kino verließ die Grenzen des Gartenrings und seine Umweltverträglichkeit verbesserte sich merklich.




Übersetzung: Doris Maidanjuk; Anmerkung der Übersetzerin: Filmtitel, die ich nicht in irgendwelchen Quellen auf Deutsch gefunden habe, sind rot markiert. Es handelt sich in diesen Fällen um die wörtliche Übersetzung des russischen Titels.