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15. August 2005
Sonderpreis für Wim Wenders beim Filmfestival Locarno 2005

Aus Anlass des 50jährigen Bestehens von INTERFILM ist der deutsche Regisseur Wim Wenders mit einem Sonderpreis der Ökumenischen Jury ausgezeichnet worden. Jurypräsident Karsten Visarius übergab Wenders eine Urkunde und eine Plakette. Die Laudatio auf den Preisträger hat folgenden Wortlaut:

Sehr geehrter Wim Wenders,

die Ökumenische Jury beim Filmfestival Locarno 2005 verleiht Ihnen einen Sonderpreis in Anerkennung Ihres herausragenden Beitrags zur Kunst des Films. Der Preis wird vergeben aus Anlass des 50jährigen Bestehens der Internationalen kirchlichen Filmorganisation INTERFILM. Gemeinsam mit der Katholischen Weltorganisation für Kommunikation SIGNIS entsendet INTERFILM die Ökumenischen Jurys in Locarno und anderen Festivals. Als Jurypräsident habe ich die Ehre, Ihnen die Laudatio zur Preisverleihung vorzutragen und Ihnen im Anschluss den Preis in Form einer Urkunde und einer Plakette zu überreichen.

Walter Benjamin, der deutsche Philosoph und Kritiker, der bis zu seinem Tode ein Engelsbild mit sich trug – den "Angelus Novus" von Paul Klee – hat in den dreißiger Jahren dem Film die Fähigkeit abgesprochen, die Aura von Menschen und Dingen zum Vorschein zu bringen. Er meinte sogar, dass das Kino die Aura zerstört. Er hat damit im Gegenteil die Aufmerksamkeit dafür geschärft, dass der Film eine ganz eigene Aura, eine physisch nicht fassbare Qualität der Wahrnehmung hervorzubringen vermag. In den Bildern der alten Kunst hat man sie bei Gelegenheit als Nimbus, als Heiligenschein, oder auch durch Flügel verdeutlicht. Die Licht- und Zeitkunst Film, so sehr sie an technische Apparaturen, an Industrie und Ökonomie gebunden ist, hat dennoch ein nicht minder immaterielles Wesen. Die Hybris des Machens und Könnens hat diesen immateriellen Kern der Filmkunst immer wieder verdunkelt. Ihr Werk, sehr verehrter Wim Wenders, ist seit seinen Anfängen dieser Aura des Films auf der Spur: zuerst in der Auseinandersetzung mit Bild- und Erzählformeln des klassischen, vor allem amerikanischen Kinos, in der Verbindung mit Musik und Literatur, später immer eigenständiger und freier. So sind Ihnen auch Engel nicht fremd, wie sie in "Der Himmel über Berlin" und anderswo auftauchen. Sie selbst haben einmal von einem besonderen Orts-Sinn gesprochen, den ein Filmemacher benötigt, einem Sinn, der zugleich Statthalter einer Beziehung zu den Dingen, zur Geschichte, zu sich selbst und anderen ist. Man kann von daher das Besondere Ihres Werks als eine sphärische Kunst, als Kunst der Sphären-Wahrnehmung charakterisieren – was wiederum nichts anderes als ein weiterer Übersetzungsversuch des Wortes Aura ist.

Diese Kunst ist nicht einfach zu haben, erst recht nicht in der Filmindustrie. Sie selbst gehört zum Prozess der Moderne, für deren Verluste Ihre Filme ein genaues Gespür verraten: Beziehungs- und Vertrauensverlust, Liebesverlust, Selbstverlust. Die Figuren Ihrer Filme sind immer wieder von einer tiefen Einsamkeit gezeichnet, die manchmal bis zu einem narzisstischen Weltverlust führt. Dennoch erzählen Ihre Filme von der Suche nach neuen, anderen Erfahrungen, die das Band mit der Welt wieder herzustellen und die Verluste zu heilen vermögen – wenn es denn glückt, sogar wieder lieben zu lernen.

Die Bilder ihrer Filme, die dem Gefundenen und Geschenkten den Vorzug vor dem Gewollten und Gemachten geben, sind den Erzählungen und Figuren oft voraus. Sie wissen stets, dass sie ein Sehen sind, in dem der Sehende selbst enthalten ist. Die Bilder ihrer Filme widersetzen sich einer Bilderproduktion ohne Subjekt, das heißt auch: ohne Verantwortung. Kaum ein Filmregisseur der Gegenwart hat so nachdrücklich über die Verantwortung des Bildermachens nachgedacht, über das, was Bilder mit uns und aus uns machen. Ihre Filme, die sich oft – wie "Der Stand der Dinge" – mit dem Filmemachen, dem Kino, dem Sehen und den Bildermaschinen auseinandersetzen, ziehen daraus die Konsequenz. Sie sind Zeugnis einer sowohl ästhetischen wie moralischen Sensibilität – einer zum Nachdenken anstiftenden, bestürzenden, irritierenden, beglückenden und tröstenden künstlerischen Sensibilität und Verantwortung. Darin ist Ihnen die Arbeit der kirchlichen Filmorganisationen zuinnerst verbunden. Ich freue mich sehr, Ihnen – im Vorfeld Ihres sechzigsten Geburtstags – den Sonderpreis der Ökumenischen Jury überreichen zu dürfen, und wünsche Ihnen den Segen Gottes.

Für die Ökumenische Jury beim Filmfestival von Locarno 2005, berufen von SIGNIS und INTERFILM,
Karsten Visarius, Jurypräsident
Locarno, den 6. August 2005

Wim Wenders (l.) und Karsten Visarius bei der Preisverleihung