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Cannes

54. Internationales Filmfestival Cannes
9.-20. Mai 2001

>Filme als kulturelles Gedächtnis (Werner Schneider-Quindeau)

Preise der Ökumenischen Jury

Die Ökumenische Jury in Cannes 2001 mit den Mitgliedern

Adan M. Medrano (USA)
Claudine Roshem-Smith, Präsidentin (Frankreich)
Marie Guillet (Frankreich)
Gaye Williams Ortiz (Großbritannien)
Werner Schneider-Quindeau (Deutschland)
Eduardo T. Panik (Brasilien)

vergibt den Ökumenischen Filmpreis an

Safar e Gandehar (Kandahar)
von Mohsen Makhmalbaf, Iran 2001

Der Film erzählt die Geschichte einer jungen afghanischen Journalistin, die aus Kanada in ihr Heimatland reist, um den Selbstmod ihrer Schwester zu vehindern. Die Paradoxie zwischen der Schönheit der Bilder und der erfahrenen Repression gestaltet der Film in beeindruckender Ästhetik. Er ist vor allem eine Parabel der Hoffnug und eine Darstellung der gegenwärtigen Realität, in der die verzweifelte Situation von Frauen und die Schrecken des Krieges gezeigt werden.

Die Jury verleiht außerdem eine Lobende Erwähnung an

Pauline et Paulette
von Lieven Debrauwer, Belgien 2001

Als die ältere Schwester von Pauline, die behindert ist, stirbt, stellt sich für die beiden anderen Schwestern die Frage, wer von ihnen sich fortan um Pauline kümmern soll. Einer sensiblen Regie gelingt in Verbindung mit brillanten Darstellerinnen ein eindringliches Porträt schwesterlicher Liebe.

 

Filme als kulturelles Gedächtnis

Zur Bedeutung der Filmkultur im öffentlichen Leben verschiedener europäischer Länder
Von Werner Schneider-Quindeau, Filmbeauftragter des Rates der EKD


Werner Schneider-QuindeauWer sich die 23 Filme im Wettbewerb des diesjährigen Filmfestivals von Cannes angeschaut hat, dem dürfte die geographische Begrenztheit der Auswahl kaum entgangen sein. Über die Hälfte der präsentierten Filme kamen aus nur vier Ländern: vier aus den USA, vier aus Frankreich, drei aus Italien und drei aus Japan. Filme aus Afrika, Lateinamerika oder Nord- und Mitteleuropa fehlten in dieser größten Filmschau der Welt überhaupt. Und Deutschland ist schon seit 8 Jahren mit keinem Film im Wettbewerb von Cannes vertreten.

Diese Dominanz klassischer Filmkulturen verweist jedoch auf die öffentliche Anerkennung, die der Film in der Kultur der jeweiligen Ländern genießt. In den USA ist eben nicht nur die global orientierte Hollywoodindustrie zu Hause, sondern über den Film vermitteln sich zentrale politische, soziale und existentielle Themen. Ein Film wie Joel Coens "The man who wasn't there", der im Stil des "film noir" in Schwarzweiß und mit kunstvoller Beleuchtung die Fragen tragfähiger Existenz und Identität stellt, ist klassisches europäisches Autorenkino. Und auch der neue Film von David Lynch "Mulholland Drive", der sich kritisch mit den Abgründen und multiplen Persönlichkeiten von Film- und Showindustrie (z.B. "Madonna") auseinandersetzt, stellt künstlerisch anspruchsvolles Kino ersten Ranges dar. Wo es für Coen und Lynch auf höchst artistische Weise um Identität und Medienideologie unter den Bedingungen einer modernen individualisierten Gesellschaft geht, da liefert der technisch perfekte Animationsfilm "Shrek" aus den Dreamworkstudios von S. Spielberg die Kampfansage an den Marktführer Disneyproduction: Wer macht den besseren Film zum Märchen "Die Schöne und das Biest"? Während in den USA der Film von Anfang an die Kultur des aktuellen Marktplatzes geprägt hat, greift er in Japan auf historische Dimensionen zurück, um gegenwärtige Verständigung anzustoßen. Der Bezug auf den Massenselbstmord einer apokalyptischen religiösen Sekte oder die Bedeutung magisch-religiöser Traditionen für die Beziehungen zwischen Frau und Mann: die Filme versuchen durch die Erinnerung an Ereignisse und Traditionen auf Defizite aufmerksam zu machen, die beim Tempo und in der Kultur einer modernen Informations- und Dienstleistungsgesellschaft allzu schnell übersehen werden. In Japan scheint der künstlerisch ambitionierte Film einer meditativen Tradition zu folgen, die durch Ozu und Kurosawa bereits meisterlich repräsentiert wurde.

Für Europa verwundert es nicht, daß die Filmkulturen Frankreichs und Italiens nach wie vor von großem Gewicht für die öffentlichen Wahrnehmungen und Debatten sind. Während der Film in Deutschland kulturell eher eine marginale Bedeutung besitzt, gehört er in Frankreich und Italien zum Zentrum des politischen und intellektuellen Lebens. "Cahiers du Cinema", die Filmzeitschrift der Rivette, Godard, Malle, Truffaut, existiert seit nunmehr 50 Jahren und bildet eine intellektuelles Sprachrohr von höchstem Ansehen in der französischen Kultur. J. L. Godards "Eloge d'amour" und J. Rivettes "Va savoir" waren auf dem Festival in Cannes gleichsam eine Demonstration dieser kulturellen Bedeutung. Godards Film stellt eine komplexe Reflexion über die Liebe dar, die zugleich eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust, der amerikanischen Filmindustrie und dem philosophischen Nachdenken über Erinnerung beinhaltet. Wir hören jemanden sprechen, aber wir sehen ihn nicht. Er spricht über ein Projekt, das die vier zentralen Momente der Liebe beschreibt: die Begegnung, die körperliche Leidenschaft, Auseinandersetzung und Trennung, Sich-Versöhnen. Erzählt wird dies durch drei Paare: einem jungen, einem erwachsenen und einem alten Paar. Wir wissen nicht, ob das Projekt für ein Theaterstück, einen Film, eine Erzählung oder eine Oper entworfen wird. Der Autor des Projekts ist immerzu von eine Art Diener begleitet. In dieser Skizze ist bereits der ganze Film enthalten, wie er sich dann in einer vielschichtigen Collage aus Bildern von Plätzen und Orten, aus Stimmen und Empfindungen zusammensetzt. Als Hymne an die Liebe ist Godards Film zugleich ein philosophischer Essay über erinnerte Beziehungen zwischen Frau und Mann im 20. Jahrhundert. Unbestritten ist der kulturelle Ort des Films: er gehört zu den Künsten, die sich auch politisch engagieren, die sich einmischen in die wichtigen öffentlichen Debatten und die in der französischen Öffentlichkeit auch so gesehen und gehört werden. Ganz anders, aber von gleichem Gewicht, der Beitrag von J. Rivette. Sein Film "Va savoir" spielt mit Esprit und Komik Liebesordnungen durch, wobei das Theater und die europäische Philosophie eine Art flankierender Selbstverständigungsbemühung bilden. Eine italienische Theatertruppe auf Europatour: In Paris führt sie Pirandellos "Come tu mi vuoi" auf. Camille ist die Hauptdarstellerin und zugleich dieLebensgefährtin von Ugo, dem Regisseur des Stücks. Sie ist französicher Herkunft und kehrt nach drei Jahren zum ersten Mal wieder nach Paris zurück,  wo sie damals Pierre verlassen hat. Zwar fürchtet sie das Wiedersehen, doch trifft sie sich mit ihm. Ugo hat ebenfalls ein Geheimnis. Paris bietet ihm die Gelegenheit nach einem verschollenen Manuskript des großen Goldoni zu suchen, das sich hier befinden soll. Die Suche führt ihn zur verführerischen Dominique. Die leidenschaftlichen Verwicklungen führen zu einem ungewöhnlichen Duell, bei dem alle sich der Wahrheit stellen müssen. Erneut erweist sich dabei das Theater als Ort der Erkenntnis. Als Altmeister der "nouvelle vague" repräsentieren Rivette und Godard eine Filmkultur, die einen anerkannten und unverzichtbaren Beitrag zur gesellschaftlichen Selbstverständigung leistet. Inzwischen hat eine jüngere Generation von Regisseurinnen und Regisseuren diese kulturelle und gesellschaftspolitische Rolle übernommen wie Claire Denis, Laetitia Masson, Matthieu Kassovitz und Erick Zonca. Mit geschärftem Blick erinnern sie an soziale und kulturelle Problemlagen, die in ihrer Alltäglichkeit oft keinen Ort im Gedächtnis der Gesellschaft finden. Ähnlich in ihrer anamnetischen Funktion verhält es sich mit der italienischen Filmkultur. Ob der diesjährige Gewinner der "Goldenen Palme" in Cannes Nanni Moretti mit seinem unspektakulären Film über die Trauer einer Familie nach dem Tod des 17jährigen Sohnes oder Ermanno Olmis "Il mestiere delle armi" über den frühen Tod des 28jährigen Ioanni de' Medici, der sich deutschen Landsknechten 1526 auf ihrem Weg nach Rom zu widersetzen versucht und dabei tödlich verwundet wird: auch hier verbinden sich differenzierte psychische Wahrnehmung und exakte historische Erinnerung zu einem unübersehbaren Beitrag zur gegenwärtigen Kultur Italiens. Von Rossellini bis Scola, von Pasolini bis Amelio , von Fellini bis Tornatore hat der italienische Film die Wirklichkeit dieses Landes auf komische und bittere, auf aggressive und liebenswürdige Weise erschlossen, so daß wir vieles über Italien gar nicht wüßten, wenn es diese Filme nicht gäbe.

Der entscheidende Grund für die Rolle der italienischen und französischen Filmkultur als kulturelles Gedächtnis hat m. E. mit ihren geschichtlichen Erfahrungen während des Nationalsozialismus und des Faschismus zu tun. Während in Deutschland eine blühende Filmkultur von den Nationalsozialisten zu Propagandazwecken instrumentalisiert und damit zutiefst beschädigt wurde, war dies in Frankreich und Italien in diesem Ausmaß nicht der Fall. An den Folgen dieser nationalsozialistischen Zerstörung leidet die deutsche Filmkultur bis heute. Einen mit Italien oder Frankreich vergleichbaren intellektuellen oder kulturellen Status konnte sie sich nicht erwerben. Es ist der kirchlichen Filmarbeit nach dem Krieg zu verdanken, daß der Versuch einer reflektierten und kritischen Rezeption der Filmkultur auch einen institutionalisierten Ausdruck fand. Mit "epd-Film" und seinem katholischen Pendant "film-dienst" haben die Kirchen zwei Organe geschaffen, die sich einer anspruchsvollen filmkulturellen Debatte verpflichtet wissen. Evangelische Filmarbeit mit ihrer Jury zum "Film des Monats", mit ihrer Beteiligung an ökumenischen Jurys durch INTERFILM auf internationalen Filmfestivals und mit ihren publizistischen Aktivitäten versucht auch in Deutschland die Stimme der Films als kulturelles Gedächtnis der Gesellschaft zu verstärken. Zusammen mit dieser Gedächtnisleistung wird auch der christliche Glaube mit seiner spezifischen Erinnerung an die Geschichte Israels und an die Geschichte Jesu Christi Gehör finden.