Logo Interfilm.
Kontakt | Zurück | | deutsche Version english version francais (Extraits)
Berlin
Bratislava
Cannes
Cottbus
Fribourg
Karlovy Vary
Kiev
Leipzig
Locarno
Lübeck
Mannheim - Heidelberg
Miskolc
Montreal
Nyon
Oberhausen
Riga
Saarbrücken
Venedig
Warschau
Jerewan
Zlin
andere Festivals
Festivals Archiv
Cannes

56. Internationale Filmfestspiele Cannes
14. - 25. Mai 2003

Mitglieder der Jury (v.l.n.r.): 
Ida Ghali (Ägypten), Charles Martig (Schweiz), Denyse Muller (Präsidentin, Frankreich), Antoine Rochat (Schweiz), Kristine Greenaway (Kanada), Mathilde de Romefort (Frankreich)

 

Die ökumenische Jury vergibt ihren Preis an

PANJ É ASR (Fünf Uhr nachmittags)
von Samira MAKHMALBAF, Iran 2003

Der Film zeigt den Alltag einer Familie in Afghanistan. Dabei gelingt der Regisseurin ein sowohl poetischer wie politischer Blick auf die Spannung zwischen Tradition und Moderne, insbesondere auf die Rolle der Frauen in einer Gesellschaft im Aufbau. Ihre Vision öffnet Perspektiven für die Zukunft, indem sie der politischen Realität wie der Phantasie Rechnung trägt.

 

Filmfestival Cannes 2003
Auf der Suche nach neuen Wegen in einer Welt des Zweifels
von Charles Martig

Am Filmfestival Cannes (14. bis 25. Mai) ging der Preis der Ökumenischen Jury an die junge iranische Filmschaffende Samira Makhmalbaf. Mit ihrem poetischen und politischen Engagement für eine neue Rolle der Frauen in Afghanistan überzeugte sie im Film >A cinq heures de l'après-midi<. Im Wettbewerb zeigte sich eine deutliche Tendenz zur Suche nach neuen Wegen in einer Welt des Zweifels und der Zerstörung.

Die iranische Regisseurin Samira Makhmalbaf zeigt in ihrem Film >A cinq heures de l'après-midi< das Leben einer jungen afghanischen Frau, Noqreh, die mit ihrem Vater und ihrer Schwägerin in ärmlichen Verhältnissen lebt. Noqreh geht - gegen den Willen ihres auf die strenge Tradition bedachten Vaters - zur Schule. Hier spielen sich eindrückliche Szenen ab. Eine Diskussion zwischen den Mädchen thematisiert die notwendigen Qualitäten einer Frau, die als Kandidatin in den Präsidentschaftswahlen auftritt. In der grossen Klasse lassen sich drei junge Frauen für das Rollenspiel aufstellen. Sie vertreten eine neues Bild Afghanistans, eine Vision für ein islamisches Land, das auf den Kräften der Frauen aufbaut.
>A cinq heures de l'après-midi< bezieht seine Kraft einerseits aus dieser politischen Vision. Andererseits ist es auch ein poetischer Blick auf den Zustand der kulturellen Entwicklung, die Spannung zwischen Tradition und Moderne. Der Vater zieht mit seiner Familie weg in die Wüste und nimmt damit Noqreh die Möglichkeit, weiter in die Schule zu gehen. Dies bedeutet den Tod, denn die Abgrenzung von der kulturellen Öffnung des Landes führt zum Versiegen der Quellen. Nur die Frauen machen sich auf zu einem Hügel, auf dem noch Wasser zu finden ist und lassen die alten Männer in der ausgetrockneten Senke zurück. - Bei der Preisverleihung sagte die glückliche iranische Filmschaffende "Ich bin Muslima, Christin, Buddhistin, Hinduistin... doch die Liebe zu Gott gibt es nur in der Liebe zu den Menschen." Mit diesem Kurzstatement bedankte sie sich für die Überreichung des ökumenischen Preises, der aus einer Medaille mit dem Friedenssymbol der Taube und einem Diplom besteht.

Langjährige Präsenz der ökumenischen Filmarbeit

Die christlichen Kirchen waren mit einem eigenen, sehr gut frequentierten Stand im Filmmarkt von Cannes präsent. Hier arbeiteten rund 40 Freiwillige, die sich für die Pressearbeit, die Organisation und den Auftritt der ökumenischen Jury in Cannes engagierten. Auf diese Weise wurde in den vergangenen 30 Jahren eine einzigartige Präsenz der ökumenischen Filmarbeit in Cannes aufgebaut. Die ökumenische Jury ist seit 1974 am Filmfestival Cannes akkreditiert. Sie wird von den internationalen Filmorganisationen SIGNIS und INTERFILM getragen.

Gus van Sants "Elephant" und Lars von Triers "Dogville"

Der mit der goldenen Palme prämierte Film >Elephant< von Gus van Sant zeigt in einer experimentellen Anlage das Massaker in einer amerikanischen Highschool aus verschiedenen Perspektiven. Die strenge Form der Kamerafahrten, die die Jugendlichen begleitet, führt zum Schluss in die verstörende, weil banalisierende Perspektive der jungen Täter, die mit Maschinengewehren und mit dem Motto "have fun" durch die Schule ziehen und ihre Mitschüler Schuss für Schuss erledigen. Andere filmische Experimente wie zum Beispiel Lars von Triers >Dogville< glänzen mit ihrer konsequenten Form. Das radikale Experiment des dänischen Regisseurs spielt auf einer Bühne, auf dem die Dekors auf ein Minimum reduziert sind, in dem die Schauspieler irgendwie ausser sich scheinen und distanziert zu den Ereignissen agieren. Mit Nicole Kidman hat >Dogville< einen Star in der Hauptrolle, der sich schauspielerisch gekonnt vom bekannten "method acting" entfernt. Hier sind wir mehr bei Brecht und seiner Vorstellung der Distanzierung durch Verfremdungseffekte, als im Kino der Gefühle. Und dennoch geht von der Konstellation auf der Leinwand eine geheimnisvolle Faszination aus.
Inspiriert vom Lied der Piraten-Jenny in der Dreigroschenoper hat sich Lars von Trier eine amerikanische Geschichte ausgedacht und in die Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts übertragen. Grace, eine sehr schöne junge Frau, entkommt einer Bande von Gangstern und versteckt sich in einem kleinen Dorf in den Rocky Mountains. Sie hilft den Leuten in "Dogville", versucht ihre Gunst zu gewinnen und wird immer mehr ausgenutzt und erniedrigt. Am Schluss steht ein moralischer Diskurs über die Vergebung und die Notwendigkeit der Rache. Grace entscheidet sich für die Auslöschung des Dorfes, damit die Welt ein wenig besser werde.

Untergang des amerikanischen Reiches

Eine Standardfrage an den Pressekonferenzen in Cannes war: "Ist Ihr Film anti-amerikanisch?" Diese Frage musste sich auch der Kanadier Denys Arcand gefallen lassen, der mit >Les invasions barbares - Le declin de l'Empire americain continue< den Niedergang des amerikanischen Imperiums bereits im Titel trägt. Arcand, der 1989 seinen Film >Jesus de Montreal< in Cannes präsentierte und dafür den ökumenischen Preis erhielt, zog sich im Gespräch mit den Journalisten sehr gekonnt aus der Affäre: "Unsere Beziehung als Kanadier zu den USA ist diejenige einer sehr engen Nachbarschaft. Man kennt sich sehr genau. Sie ist zu vergleichen mit der Lage Siziliens angesichts des römischen Reiches. Sizilien war eine griechische Kolonie und wusste sich in unmittelbarer Nähe zum römischen Imperium. Aus meiner Perspektive ist es klar, dass die USA die massgebende militärische und kulturelle Macht des neuen Jahrhunderts ist. Wir müssen einfach damit leben." Diese kritische und gleichzeitig pragmatische Haltung prägt auch den Film >Les invasions barbares<, in dem verschiedene Formen des Eindringens von barbarischen Kräften in das amerikanische Imperium durchgespielt werden: Epidemien und Zivilisationskrankheiten, Drogen, militärische Attacken, Migration. Im Mittelpunkt des Films steht Remy, ein Intellektueller Mitte sechzig, der mit Krebs im hoffnungslos überfüllten Spital in Quebec liegt. Er hat sein Leben mit Frauen, Wein und Witz genossen und ist nun am Ende seines Lateins. Eine junge Generation von Leuten mit neuen Werten scheint seine intellektuelle Kultur der Bücher und des Esprit zu verdrängen. Sein Sohn ist - zu seiner grossen Enttäuschung - ein sehr erfolgreichen Banker geworden, der sich alles kaufen kann, sogar ein separates Zimmer im Spital und grössere Mengen Heroin für seinen Vater Remy. Die Beziehung zwischen Vater und Sohn, zwischen zwei Befindlichkeiten in der Welt ist anfangs sehr gespannt und entwickelt sich im Film zu einem echten gegenseitigen Verständnis. Es ist ein Geheimnis dieses Films, wie Denys Arcand es schafft, die Balance zwischen Traurigkeit und Leichtigkeit des Seins zu halten. Remy kann im vertrauten Kreis seiner Freunde und seiner Familie einen würdigen Tod sterben und trotzdem bleibt bis zum Schluss ein ironischer und teilweise sarkastischer Widerstand zur Welt, in ihrer Widersprüchlichkeit und in ihrer Schönheit.

Charles Martig