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Leipzig

                       

46. Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm
14.-19.Oktober 2003

Festivalbericht 2003

Die Ökumenische Jury der Katholischen Weltorganisation für Kommunikation SIGNIS und der Internationalen Kirchlichen Filmorganisation INTERFILM, bestehend aus Marcel Bauer (Belgien), Johannes Horstmann (Deutschland, Vorsitz), Dorothea Moritz (Deutschland) und Peter F.Stucki (Schweiz)

vergibt ihren Preis an den Dokumentarfilm

Reinigungstag – Cistyj Cetverg – Clean Thursday
von Aleksandr Rastorgujev, Russland 2003

mit folgender Begründung:

"Reinigungstag" ist ein virulenter Diskussionsbeitrag über die irreversiblen Schäden von Kriegsführung. Der Film trotz mit seinen Bildern den Bemühungen, den Krieg reinzuwaschen.

Synopsis (Katalog):
Eine Sondereinheit der russischen Armee in Tschetschenien in einem Zug mit einer Dampflokomotive. Aber der Dampf dient nicht nur dazu, den Zug anzutreiben: Drei der fünf Waggons sind Wäschereien, die anderen beiden Badehäuser. Verdreckte und blutbespritzte Soldaten waschen hier ihre Wäsche und sich selbst, bevor sie zurück in die zerstörte Stadt fahren. Aber auch ihre Seele versuchen sie hier zu reinigen: mit Gelächter und Fluchen, mit Angebereien, Lügen und Erinnerungen an ihre Mütter...


Die Oekumenische Jury spricht zudem eine Lobende Erwähnung aus für den Film

Das Rad – Kola – The Wheel
von Victor Asliuk, Belarus 2003

mit folgender Begründung:

Ein poetischer Kamerafilm mit einem Augenmass für ein Leben zwischen Hoffnung Tristesse.


Mahnungen zur Wahrheit

Ein Festivalbericht für Interfilm von Peter F.Stucki (Bern)

Das Dokumentarfilmfestival Leipzig steht nach wie vor im Ruf der Politik, der kontroversen Auseinandersetzungen, der Nüchternheit und manchmal auch der Unbotmässigkeit.

Peter Sodann, Intendant des Neuen Theaters Halle, entwarf in seiner Eröffnungsansprache "die Vision einer Kunst, die sich jenseits einer zunehmend verkrampften Spass- und Geldgesellschaft der Aufklärung verpflichtet fühlt, und einer Kunst, die eine Mahnung zur Wahrheit ist und sich nicht einordnet in den lichterglänzenden Reigen verblödender Superstarshows und alles zerquatschender Talk-Runden...

Dokumentarfilme drehen, heisst die Wahrheit suchen, auch wenn es nicht nur die eigene ist. Und man muss nicht beleidigt sein, wenn diese Wahrheit niemand hören will – aussprechen muss man sie dennoch und immer wieder.

Wermutstropfen

Das diesjährige Dokumentarfilmfestival wurde diesem hohen Anspruch gerecht, wenn auch die Stimmung durch gehörige Wermutstropfen und Sorgen getrübt war im Blick auf die Zukunft des Festivals. Nach wie vor ist die Neubesetzung der Festivalleitung im nächsten Jahr nicht geklärt. Der Vertrag mit dem bisherigen Geschäftsführer läuft aus und die Frage ob für den zurückgetretenen Festivalleiter Fred Gehler der renommierte Direktor des Festivals "Vision du Réel" in Nyon am Genfersee Jean Perret nachfolgt, ist weiterhin offen.

Vorgaben

Die sechzehn Wettbewerbsfilme des Dokumentarfilmblocks und Peter Sodanns Maxime schienen die Oekumenische Jury ebenso zu inspirieren wie die Richtlinien für die Internationalen Oekumenischen Jurys, den Preis an Filme zu vergeben, die sich "durch künstlerische Qualität auszeichnen, eine dem Evangelium entsprechende menschliche Haltung und Aussage zum Ausdruck bringen oder zur Auseinandersetzung damit anregen und den Zuschauer für spirituelle, gesellschaftliche und soziale Fragen und Werte sensibilisieren." Dabei wäre für sie der von Internat.Jury mit der Goldenen Taube und ebenso von der FIPRESCI-Jury der Filmkritik ausgezeichnete Film von Rithy Panh "S21 – Die Todesmaschine der Roten Khmer" (Frankreich 2002) durchaus auch preiswürdig gewesen, doch fiel der Entscheid anders aus:#

Der Preisträger der Ökumenischen Jury

Mit der Preisvergabe an "Reinigungstag" (Beta PAL, s/w, Farbe, 45’) des 1971 in Rostov geborenen russischen Regisseurs Aleksandr Rastergujev zeichnete die Oekumenische Jury einen Film aus, der die zahllosen Mechanismen und Versuche von Politik, Militär und Massenmedien, den Tschetschenienkrieg auslassen oder reinzuwaschen, ad absurdum führt. Bevor eine Sondereinheit der russischen Armee zurück nach Grosny fährt, waschen die verdreckten und blutbespritzten Soldaten sich und ihre Wäsche. Mit Gelächter, Flüchen, Prahlereien und Erinnerungen an ihre Lieben zu Hause versuchen sie auch ihre Seele zu reinigen. Die über die Dampflokomotive betriebene Wäscherei mit Badhaus inmitten einer für die Soldaten gottvergessenen Gegend von trügerischer Ruhe wird zur beispiellosen Metapher des verlogenen Umgangs mit Gewalt, Angst, Schuldhaftigkeit und manipulierter Sühne. Das Ritual des Reinemachens dient einerseits dem Wahrnehmungsverlust der angerichteten Schäden, andererseits der Sichtbarmachung einer von ganz oben verordneten Bildwäsche. Der Film, der vom Mitteldeutschen Rundfunk MDR auch mit dem Preis für einen herausragenden osteuropäischen Film ausgezeichnet worden ist, hat offenbar einen deutschen Verleiher gefunden.#

Lobende Erwähnung für "Das Rad"

Eine Erfahrung der besonderen Klasse bildete der sowohl von der Oek.Jury als auch von der Internat. Jury mit einer Lobenden Erwähnung bedachte Kurzfilm "Das Rad" (35mm, s/w, 23’) von Victor Asliuk. Am geringen Touristen-Reiz des ausschliesslich nur noch von Alten bewohnten Dorfes in der winterlichen Abgeschiedenheit Weissrusslands lag es sicher nicht, dass dieser schwarzweiss gedrehte Film gefiel. Man hegte als Betrachter seine Zweifel, ob die einzige junge Familie mit dem Baby dort noch etwas auszurichten haben würde und empfand Vergnügen, wenn der Familienvater ab und zu für Kurzweil sorgte, wenn er an einer alten Teppichstange draussen im Schnee so ungelenk wie unerreicht Kniewellen schlug. Im liebevollen Blick, im Mass der Dinge und im Erzählrhythmus liegt das kinematographische Geheimnis dieses Kleinods.

"Leben für Land"

Ebenso beachtlich wie aufschlussreich ist die Arbeit "Leben für Land" (Beta PAL, Farbe, 52’) der israelischen Filmemacherin Tamar Wishnitzer-Haviv, der die junge jüdische Witwe Adi begleitet, deren Mann Dov, ein radikaler Siedler, von Palästinensern erschossen worden ist (Lobende Erwähnung der Internat.Jury). Dovs Tod stürzt Adi in einen Konflikt mit der Siedler-Ideologie und mit ihren Verwandten und Freunden, die sie bedrängen, ihre "Festung" zu halten. Der aus den USA gebürtige Schwiegervater setzt ihr und den Kindern besonders zu. Nach vier einsamen und belastenden Jahren verlässt sie ihre gefärhdete Heimstatt und zieht mit ihren zwei Kindern in eine weniger exponierte, ebenfalls besetzte Zone. Angesichts all der horrenden Probleme im Nahen Osten nimmt sich eine Feier der Siedler aus, an welcher der Tod von Adis Mann krass instrumentalisiert wird. Die Palästinenser lassen sich vor der Kamera kaum zu einer Stellungnahme bewegen. Das Schlussbild zeigt eine "schauerlich" schöne Autofahrt von Adi in den Sonnenuntergang... Einzelne Episoden, die allzu arrangiert wirkten und die oft amateurhafte Gestaltung hielten die Oek.Jury davon ab, den Film auszuzeichnen.

"Bus 174"

"Bus 174" des Brasilianers José Padilha (35mm, Farbe, 133’) wirkte zu Beginn wie eine von Video auf 35mm hochgeblasene Fernsehdokumentation über eine Geiselnahme in Rio de Janeiro. Sehr bald aber entpuppte sich der Film als eine hochspannende, hochkomplexe und präzise Untersuchung einer Extremsituation mit einer Unzahl von Aspekten des Hintergrunds seitens der Opfer, des Täters, der Polizei, der Menge vor Ort, der Medien, und impliziert nicht zuletzt auch den Zuschauer selbst. "Effekthascherei" lautete einer der am häufigsten gegenüber dem Film vorgebrachten Vorwürfe. Starke Haupteffekte waren in der Tat die radikale Vergegenwärtigung und die Recherche, beziehungsweise die Analyse dieser Wirklichkeit. Die ehemaligen Geiselopfer und Zeugen vermochten der Angst und dem Mut eine Stimme zu geben. Der junge Geiselnehmer war übrigens eines jener Strassenkinder, die 1993 beim Massaker einer "Todesschwadron" an obdachlosen Kindern und Jugendlichen vor einer Kirche in Rio mit dem Leben davongekommen sind. Zehn Jahre später lief er ins Feuer.