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53. Internationale Filmfestspiele Berlin
6.-16. Februar 2003

Mitglieder der Ökumenischen Jury:

Radovan Holub (Tschechien), Doron Kiesel (Deutschland),
Thomas Kroll (Deutschland), Charles Martig (Schweiz, Präsident),
Denyse Muller (Frankreich), Rose Pacatte (USA)

Preisträger der Ökumenischen Jury

Der Preis für einen Wettbewerbsfilm geht an den Film:

In This World von Michael Winterbottom, Grossbritannien 2002.


Begründung der Jury: Mit Blick auf die Reise von zwei afghanischen Flüchtlingen bezeugt der halbdokumentarische Film eine anhaltende, weltweite, menschliche Tragödie. Er zeigt die widrigen Umstände, unter denen Flüchtlinge ihre Existenz zu sichern bemüht sind und die Gefahren der illegalen Immigration auf sich nehmen. Indem der Film die Geschichte eines Mannes und eines Jungen aus deren Perspektive zeigt, ermöglicht er dem Kinopublikum nachzuvollziehen, was es bedeutet, Schleppern ausgeliefert und rechtlos zu sein.


Der mit € 2.500 dotierte Preis für einen Film aus dem 18. Panorama geht an:

Knafayim Shuvrot (Broken Wings) von Nir Bergman, Israel 2002.

Begründung der Jury: Der Film gibt einen Einblick in das Leben einer israelischen Familie, deren Mitglieder sich nach dem Tod des Vaters mit Trauer, Verständigungsproblemen, Identitätssuche und dem unerfüllten Wunsch nach Nähe auseinandersetzen müssen. Der Regisseur arbeitet zum einen die spannungsreiche Dynamik ob der unterschiedlichen Altersstufen heraus. Zum anderen zeigt er - eher indirekt - die dramatischen psychischen Folgen der politischen Konflikte im Nahen Osten für den familiären Alltag.


Der mit € 2.500 dotierte Preis für einen Film aus dem 33. Internationalen Forum des Jungen Films geht an

Edi von Piotr Trzaskalski, Polen 2002.

Begründung der Jury: Der Film zeigt die Geschichte zweier befreundeter Schrottsammler. Einer der beiden, Edi, wird als lebensweise, gradlinig und leidensbereit gezeichnet. Im Laufe des Films, der Aspekte der sozialen Problemlagen Polens metaphorisch verdichtet, wird Edi zum Ziel der Interessen und Attacken anderer. Infolgedessen entwickelt er eigensinnige Lebensformen, die seine eigene Würde und die anderer bewahren.

   

 

Berlinale zwischen Sterben und Migration
Festivalbericht von Charles Martig, Präsident der Jury

Zwei Themen dominierten den Wettbewerb der 53. Internationalen Filmfestspiele Berlin: Das Sterben und die Migrationsfrage. Die ökumenische Jury vergab ihren Preis an den dokumentarischen Flüchtlingsfilm >In This World< von Michael Winterbottom, der diese beiden Themen zusammenfasst.

Es ist erstaunlich, wie die gesellschaftliche Befindlichkeit der Unsicherheit und des Sterbens sich in den Filmen der Berlinale gespiegelt hat. In >My Life without me< erfährt die dreiundzwanzigjährige Ann - Mutter von zwei Kindern - von ihrer tödlichen Krankheit und schreibt eine Liste all jener Dinge, die sie noch erledigen möchte. Die katalanische Regisseurin Isabel Coixet begleitet diese letzten Tage Anns mit Warmherzigkeit und ganz ohne Sentimentalität. Der Franzose Patrice Chéreau zeigt in seinem eindrücklichen Film >Son frère< die ausgemergelte Gestalt eines jungen Mannes, der an einer seltenen Bluterkrankung leidet. Auf dem Krankenbett wird er vom Spitalpersonal rasiert und auf die Operation vorbereitet. Die Kamera fängt unvergessliche Bilder ein und nimmt dabei die Perspektive des jüngeren Bruders ein, der diese Szenen des Verfalls verfolgt. Ein Schwerkranker wird seiner Intimität beraubt und kann sie erst wieder im Tod zurückgewinnen.  

Migration als Frage des Überlebens

An dieser Grenzerfahrung des Todes arbeitet auch der Brite Michael Winterbottom und verschärft den Blick für die politische Wahrnehmung der Migrationsfrage. Die dokumentarisch eingeführte Geschichte von Jamal, einem jugendlichen Afghanen, der sich zusammen mit seinem Bruder vom pakistanischen Grenzgebiet bis nach London durchschlägt, überzeugt durch die Einfachheit und Direktheit der Bilder. Hier gibt es keine Verwicklungen, Wendepunkte in der Geschichte, keine Nebenfiguren, kaum eine Entwicklung ist spürbar. Nur die Strapaze dieser lebensgefährlichen Reise steht im Mittelpunkt. Diese Reduktion auf das Wesentliche ist das, was den Film so eindringlich macht. Bald ist man als Zuschauer und Zuschauerin gepackt von diesem Film, als gehe es um das eigene Leben. Jamals Begleiter erstickt im Container, doch der Junge erreicht London und telefoniert nach Hause. Sein Asylantrag wird angenommen, doch bei Erreichung seines 18. Lebensjahres muss er das Land wieder verlassen. Hier trifft sich die politische Dimension des Films mit der existentiellen Bedrohung des Lebens. Im Umfeld der Vorbereitungen auf den Irakkrieg, der grossen Friedensdemonstrationen, die in Berlin 500'000 Menschen zusammenführte, war dieser Preisträger, der den Goldenen Bären, den Friedenfilmpreis und den Preis der Ökumenischen Jury gewonnen hat, ein wichtiges Signal. Es gibt ein Kino, das ohne die Tricks aus der Traumfabrik auskommt und sich auf die gesellschaftliche Realität bezieht.  

Heilende Geschichten aus dem Alltag

In den beiden Sektionen Panorama und Forum des jungen Films war unter anderem der Konflikt zwischen Israel und Palästina präsent. Interessant ist dabei, dass die Filme nicht so sehr auf den konkreten politischen Kontext eingehen, sondern alltägliches Leben zeigen. Im Zentrum steht die Frage, wie es in dieser gespaltenen Gesellschaft möglich ist, ein friedliches Leben zu führen. >Broken Wings< von Nir Bergman, ein erstaunlich stilsicherer Erstlingsfilm (Bild rechts), erzählt von einer alleinstehenden Mutter, die mit ihren vier Kindern nicht mehr zurecht kommt. Die Arbeit als Hebamme im Spital ist anstrengend. Die Familie ist durch den Tod des Vaters traumatisiert und die Kinder versuchen, diese einschneidende Erfahrung zu verarbeiten. Obwohl der Konflikt zwischen Palästinensern und Israeli nicht vorkommt, ist er doch indirekt stets präsent: in der fragilen Familiensituation, in der Krise der Figuren, die in einer verunsicherten Gesellschaft heimatlos geworden sind. In >Lettere dalla Palestina< versucht eine Gruppe von italienischen Filmschaffenden in zehn Geschichten, Bilder aus dem Alltag in Palästina zu übermitteln. Die übergreifende Idee dieses Projektes ist es, den Schmerz und das Leid eines Volkes auf metaphorische Weise in etwas Positives zu verwandeln. Die Geschichten oder poetischen Beschreibungen wollen einen Heilungsprozess möglich erscheinen lassen. Der Film wurde zwischen dem 3. und 10. Juni 2002 ohne Unterbrechung an den gefährlichsten Orten im besetzten Territorium und in Israel gedreht, unter anderem in Jerusalem, Gaza, Ramallah und Tel Aviv.  

Polnische Passion

Die Ökumenische Jury hat im Forum mit >Edi< einen aussergewöhnlichen Film entdeckt, der sich den Ärmsten in der polnischen Gesellschaft zuwendet. Edi und Jureczek arbeiten als Schrottsammler. Sie leben in einfachsten Verhältnissen, sind beide Alkoholiker und schlagen sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Durch eine tragische Verstrickung wird Edi von zwei gewalttätigen Alkohollieferanten verdächtigt, deren Schwester vergewaltigt zu haben. Edi erleidet Gewalt und Schändung, wehrt sich jedoch nicht gegen die schrecklichen Übergriffe. Er behält seine Würde und erstaunt durch einen radikalen Verzicht auf Gewalt. In dieser Figur wird ein Weg der Passion sichtbar, der christologische Züge annimmt. Der junge Regisseur Piotr Trzaskalsi hat mit dem lowbudget Film eine einfache und sehr berührende Geschichte auf die Leinwand gebracht, die Lebensweisheit und eine Grundhaltung des Verzeihens verdichtet. Der Skandal des vollständigen Gewaltverzichtes wird hier erfahrbar.

  

Vielfalt und Toleranz
Die Berlinale 2003 – von Karsten Visarius

In einem Interview zur Eröffnung des Festivals nannte Festivalleiter Dieter Kosslick die Berlinale einen „audiovisuellen Kirchentag“. Man muss Kosslick danach nicht gleich zum heimlichen Mitstreiter der kirchlichen Filmarbeit ernennen. Dennoch verweist seine Analogie zwischen dem wichtigsten filmkulturellen Ereignis in Deutschland und dem dieses Jahr ebenfalls in Berlin stattfindenden, erstmals ökumenischen Kirchentreffen auf ein auch für das kirchliche Filmengagement gültiges Verständnis, für das sich Film und Kino nicht in Entertainment und Geschäft erschöpfen. Vielmehr ermöglicht der Film, ganz dem Festivalmotto „Towards Tolerance“ entsprechend, eine Wahrnehmung der Welt unter unterschiedlichsten Perspektiven und einen vielstimmigen Dialog von Menschen mit jeweils spezifischen historischen, politischen und kulturellen Prägungen. Dabei spiegeln die Geschichten des Kinos nicht vor, dass Verständigung billig zu haben wäre, auch wenn sie den Fantasieräumen der Illusion entstammen. Der Abschlussfilm des Festivals, Martin Scorseses >Gangs of New York< (Bild links), entwirft vielmehr das Bild einer fortwährenden Gewaltspirale, die ein zur Vergebung unfähiges Menschengeschlecht seit Jahrhunderten hervorbringt. Der Zuschauer dieses barbarischen Infernos, das Scorsese anhand der ethnischen Bandenkämpfe in New York Mitte des 19. Jahrhunderts entwirft, vermag jedenfalls in der trügerischen Kulisse Manhattans vor dem 11. September, im Schlussbild des Films, kein himmlisches Paradiso zu erkennen.


Auch das Kino greift manchmal zu Wundern, wenn es von einer besseren Welt erzählen will. Der Preisträger des kirchlichen John Templeton European Film Award, der auf der Berlinale zum sechsten Mal verliehen wurde, lässt solche Wunder mit Vorliebe und größter Lakonie am Rande der Gesellschaft, im Leben der Unscheinbaren, Übersehenen und Ausgegrenzten geschehen. Das Wunder sieht zunächst wie eine Katastrophe aus. Ein von plündernden Rowdys fast Erschlagener, in der Klinik schon Totgesagter, erhebt sich von seiner Bahre und beginnt ohne Namen, ohne Gedächtnis und Identität ein zweites Leben. Bei den Ärmsten findet Aki Kaurismäkis >Mann ohne Vergangenheit< Pflege und Unterkunft, bei der Heilsarmee einen neuen Anzug und die Frau, die er lieben wird. Und als er auf verschlungenen Wegen  auch seine Vergangenheit wiederfindet, erweist sich sein altes Leben in seiner ganzen trostlosen Normalität als ebenso mißlungen wie sein neues als Segen. In seiner Predigt zur Preisverleihung interpretierte Interfilm-Präsident Hans Werner Dannowski Kaurismäkis Film als Variation der rückhaltlosen Preisgabe aller Sicherheiten zugunsten einer Verwandlung, die das Evangelium dem wahrhaft Gläubigen verheißt – nicht gerade das Szenario, das unsere aktuellen gesellschaftlichen Debatten bestimmt. Kaurismäki, der selbst den Preis nicht entgegennehmen konnte, hätte seine eigene sanfte Radikalität in dieser Deutung gut wiedererkennen können. An seiner Stelle nahm sein Produzent Ilkka Mertsola die Urkunde und das von der Templeton Foundation gestiftete Preisgeld in Höhe von 10.000 SFr. in Empfang.

Wie die Templeton-Preisverleihung fand auch der Empfang der Kirchen und der jüdischen Gemeinde in der evangelischen Matthäuskirche statt. Bei dieser Gelegenheit stellte sich auch die dieses Jahr auf sechs Mitglieder (früher zehn) reduzierte ökumenische Jury vor. International zusammengesetzt, mit Vertretern aus den USA, Frankreich, Deutschland, der Schweiz und Tschechien,  umfasste sie neben Katholiken und Protestanten auch ein jüdisches INTERFILM-Mitglied. Die Jury verlieh ihren Preis an einen Film, in dem die politische Akzentuierung des Festivals sich besonders eindrucksvoll niederschlug, an die Flüchtlingsgeschichte >In This World< von Michael Winterbottom. Halb dokumentarisch mit einer digitalen Handkamera gedreht, folgt der Film zwei Afghanen auf ihrem Weg aus einem pakistanischen Flüchtlingscamp über den Iran, die Türkei und Italien bis nach London - ein Ziel, das nur der Jüngere der beiden erreicht. Auch die Internationale Jury unter dem Vorsitz des kanadischen Regisseurs Atom Egoyan vergab den Goldenen Bären an Winterbottom, dem es gelingt, den Zuschauer in das Drama einer jederzeit existenzbedrohenden Zufällen ausgesetzten Reise hineinzuversetzen.

Die weiteren Preise der ökumenischen Jury, vom Rat der EKD und von der Deutschen Bischofskonferenz jeweils mit 2500 € ausgestattet, gingen an den polnischen Film >Edi< von Piotr Trzaskalski aus dem Internationalen Forum des jungen Films und an den israelischen Beitrag >Broken Wings< von Nir Bergmann aus der Panorama-Sektion des Festivals.