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Berlin

55. Internationale Filmfestspiele Berlin 2005
10.-20. Februar 2005

Berichte von Charles Martig (Zürich) und Angelika Obert (Berlin)

Die Ökumenische Jury der Berlinale verleiht Auszeichnungen im Wettbewerb, im Panorama und im Internationalen Forum des Jungen Films. Die Preise im Panorama und im Forum sind mit jeweils 2500.- € dotiert, die von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Katholischen Filmarbeit gestellt werden. Die Jury wird getragen von INTERFILM und SIGNIS, der Katholischen Weltgesellschaft für Kommunikation. 

Aus dem Programm des offiziellen Wettbewerbs erhält den Preis der Ökumenischen Jury

Sophie Scholl – Die letzten Tage
von Marc Rothemund, Deutschland 2005

Basierend auf einem Drehbuch, das in ausgezeichneter Weise neue historische Quellen einarbeitet, zeigt Marc Rothemunds Film mit minimalistischer Ästhetik und konsequenter Erzählstrategie die letzten sechs Tage im Leben der Widerstandskämpferin Sophie Scholl. Das Psycho-Duell der glänzenden Schauspieler vermittelt das humane aufgeklärte Denken der jungen Studentin, das im christlichen Glauben wurzelt. Der Film verweist auf einen dialogfähigen, christlichen Standpunkt, der in konsequenter Zivilcourage und im Widerstand gegen totalitäre Denk- und Machtstrukturen seinen Ausdruck findet.

Aus dem Programm des Panorama erhält den Preis der Ökumenischen Jury

Va, vis et deviens (Geh und lebe)
von Radu Mihaileanu, Frankreich/Israel 2004

Ein äthiopischer Junge mit christlichen Wurzeln verläßt das hungergeplagte Flüchtlingslager im Sudan und erreicht Israel als Land »voll Milch und Honig«. Hier wächst er versteckt als Jude auf und findet sich zunehmend mit seiner gespaltenen Identität zurecht. Radu Mihaileanus Film zeigt Verständnis für die aktuelle Vielfalt von Migrationswegen und ermutigt zum Weiterleben mit wechselnden ethnischen und religiösen Bindungen: Eine lohnenswerte Reise zu spirituellem Wachstum, zum Leben und Werden.

Aus dem Programm des Forum erhält den Preis der Ökumenischen Jury

Ratziti Lihiyot Gibor (On the Objection Front)
von Shiri Tsur, Israel 2004

Der Film erzählt die persönlichen Entwicklungen von sechs israelischen Soldaten, die nach ihrer langjährigen Militärzeit ihren jährlichen Reservedienst in den besetzten Gebieten verweigern. Ihre Zeugnisse vermitteln, wie die Gründungsvision der jüdischen Tradition persönliches Umdenken und soziale Veränderungen in Gang setzen kann.

Die Mitglieder der Ökumenischen Jury: Johanna Haberer (Deutschland), Dina Iordanova (Schottland), Thomas Kroll (Deutschland, Jurypräsident), Clotilde Lee (Korea), Charles Martig (Schweiz), Gordon Matties (Kanada)

 

Berlinale 2005 – Erwachen des politischen Kinos
Bericht von Charles Martig 

Die Frage der politischen Stellungnahme angesichts von Menschenrechtsverletzungen und Völkermord wurde an den 55. Internationalen Filmfestspielen Berlin in aller Schärfe gestellt. Die ökumenische Jury vergab ihren Preis an das Drama "Sophie Scholl – Die letzten Tage" von Marc Rothemund, das zu Zivilcourage und christlichem Glauben entscheidende Aussagen macht.

Die drei aktuellen Brennpunkte Naher Osten, Ruanda und Tschetschenien waren über alle Sektionen hinweg präsent. "Paradise Now" erzählt die Geschichte zweier junger Männer, Khaled und Saïd, die sich der Hamas angeschlossen haben und als Bombenattentäter nach Tel Aviv geschickt werden. Der Regisseur Hany Abu-Assad zeigt das Alltagsleben in Nablus und leuchtet sorgfältig die Lebensbedingungen aus. Hier sind junge Menschen arbeitslos, erniedrigt und in einem Zustand der Isolation gefangen. Es bleiben keine Optionen für die Zukunft. So erscheint zwingend der Nährboden für die Gewalt. Abu-Assad vermeidet jedoch sorgfältig, die Bobenanschläge zu rechtfertigen. Vielmehr zeigt er mehrere Möglichkeiten zum Handeln auf.

Der Krisenherd Ruanda war mit "Hotel Ruanda" und "Sometimes in April" gleich mit zwei prominenten Beiträgen in der offiziellen Auswahl vertreten. Beide thematisieren den Völkermord in Ruanda 1994, finden jedoch ganz unterschiedliche Zugänge: Während "Hotel Ruanda" eine Rettungsgeschichte erzählt, die an Steven Spielbergs "Schindlers Liste" erinnert, wendet sich der Film "Sometimes in April" von Raoul Peck dem Politthriller zu. Ausgehend vom Schicksal zweier Brüder, blendet er aus der Gegenwart zurück ins Jahr 2001 – den Prozessen vor dem internationalen Gerichtshof in Tansania. Diese geben den Blick frei auf die Ereignisse im April 1994. Hier bleibt dem Zuschauer nichts erspart: die Übergriffe der Armee, die Massaker durch Hutu-Milizen, die Leichenberge. Mit Augustin beobachten wir teilnehmend das Schicksal seiner Frau und Kinder. Sein Bruder Honoré arbeitet als Radiojournalist und ist wesentlich an den Hetzkampagnen gegen die Tutsi beteiligt. Der Film zeigt die Komplexität der Ereignisse, insbesondere auch die Rolle der Medien in dem Genozid, der rund einer Million Menschen das Leben kostete.

Mut zum Widerstand

Marc Rothemund, ein junger Regisseur aus Deutschland, bringt mit "Sophie Scholl – Die letzten Tage" ein Kammerspiel auf die Leinwand, das mit seiner Heldin die aktuelle Frage des Widerstands aufnimmt. Aufgrund von Verhörprotokollen, die in den Stasi-Archiven gefunden wurden, hat Fred Breinersdorfer ein Drehbuch verfasst, das sehr genau die schwierige Situation der Widerstandskämpferin ausleuchtet. Sie wird von Julia Jentsch hervorragend interpretiert. Erstmals wird die 21-Jährige auch als Christin gezeigt, die in ihrer Gefängniszelle betet. Ihre Stärke und Kraft bezieht sie aus dem Vertrauen auf einen Gott, der in ihrem sozialen christlichen Umfeld verankert ist. Christlicher Glaube erscheint hier als moralische Vernunft, die sich klar und selbstbewusst äussert. Die ökumenische Jury hat ihren Preis für "Sophie Scholl" mit diesem Glaubensfundament begründet: "Basierend auf einem Drehbuch, das in ausgezeichneter Weise neue historische Quellen einarbeitet, zeigt der Film mit minimalistischer Ästhetik und konsequenter Erzählstrategie die letzten sechs Tage im Leben der Widerstandskämpferin Sophie Scholl. Das Psycho-Duell der glänzenden Schauspieler vermittelt das humane aufgeklärte Denken der jungen Studentin, das im christlichen Glauben wurzelt. Der Film verweist auf einen dialogfähigen, christlichen Standpunkt, der in konsequenter Zivilcourage und im Widerstand gegen totalitäre Denk- und Machtstrukturen seinen Ausdruck findet."

Der Widerstand als Tat eines aufgeklärten Glaubens findet sich auch in Israel. Hier sind es seit zwei Jahren die militärischen Kader, die sich gegen die Besetzung der palästinensischen Gebiete auflehnen. "On the Objection Front" ist eine gut recherchierte Darstellung der Widerstands-Bewegung von jungen Männern, die sich aufgrund der Erlebnisse bei Einsätzen in den besetzten Gebieten klar gegen eine Mittäterschaft wenden. In Interviews ist hier von Menschenrechtsverletzungen und Folterungen die Rede. Shiri Tsur zeigt, welches humane Ethos aus der jüdischen Religion erwächst und wie junge Erwachsene damit ihre Verweigerung begründen. Mit dem Hinweis auf die Gründungsvision von Ben Gurion beginnt und endet der Film. Der Sinn dieser Worte wendet sich im Laufe dieser aufschlussreichen Stunde vollständig. Die persönlichen Entscheidungen zum Widerstand haben in der israelischen Gesellschaft politische Wellen geworfen, die nicht mehr zu übersehen sind. Der Film gewann den Preis der ökumenischen Jury in der Sektion Forum.

Völkermord dokumentieren

Der Schweizer Eric Bergkraut hat sich einer starken Frauengestalt angenommen: Er erzählt von Sainap Gaschaiewa, die seit 1994 dokumentiert, was in ihrer Heimat Tschetschenien geschieht: Verschleppung, Folter, Mord. Der Film stellt auch einen Bezug zur Schweiz her. Gaschaiewa, "die Taube" genannt, versucht hunderte von Videoaufnahmen und Fotos mit Menschenrechtsverletzungen in den Westen zu bringen und möchte die internationale Gemeinschaft damit konfrontieren. Sie hofft, dass es zu einem Tribunal kommt und die Schuldigen bestraft werden. Doch die politischen Verhältnisse sind äusserst schwer zu durchbrechen. Der Justizminister der russischen Föderation bringt den Konflikt auf die Formel "Internationaler Terrorismus". Der Film "Coca – Die Taube aus Tschetschenien" versucht sorgfältig aufzuweisen, dass es sich um einen Völkermord handelt, der durch die Kolonialmacht Russland ausgeführt wird. Daneben steht spiegelverkehrt der deutsche Beitrag "Weisse Raben – Alptraum Tschetschenien", der die Verletzungen und psychischen Traumata der russischen Soldaten zeigt, die in den Tschetschenien-Krieg zogen. Stellenweise zu suggestiv wirkt Tamara Trampe in ihrer Rolle als Interviewerin: Ihre jungen Interviewpartner sind sprachlos oder wollen die Erlebnisse weitgehend verdrängen. Auch sie sind Opfer des Krieges.

Ein eindrückliches Beispiel von Trauerarbeit ist "Waiting for the Clouds" (Bulutlari beklerken) der türkischen Regisseurin Yesim Ustaoglu. Bekannt wurde sie in Europa durch den Spielfilm "Reise zur Sonne", der sich mit der Kurdenproblematik auseinander setzt. In ihrem neuen Werk wendet sie sich der traurigen Geschichte der griechischen Minderheit in der Türkei zu. Durch die Geschichte von Ayshe im Fischerdorf Trebolu erfahren wir von einer fast vergessenen Episode des Ersten Weltkrieges. Im Verlauf der Feindseligkeiten zwischen der osmanischen und der russischen Armee kam es zu ethnischen "Säuberungen" und häufig tödlich endenden Deportationen. Nur indem Ayshe, die damals Eleni hiess, Schuld auf sich lud, konnte sie sich diesen entziehen. "Waiting for the Clouds" ist ein unendlich trauriger Film, der mit seiner historischen Tiefenschärfe ein Beispiel für die Bewältigung kollektiver Schuld darstellt.

Charles Martig ist Filmbeauftragter des Katholischen Mediendiensts der Schweiz
(charles.martig@kath.ch)

 

Begegnung mit der Wirklichkeit
Ein Rückblick auf die 55. Berliner Filmfestspiele

von Angelika Obert

Ein Blick, der sich nicht täuschen lässt. Um den Mund ein Weltzweifel, durch den es wie Lächeln schimmert. Auf dem Gesicht ein Licht, das den Zügen fast schon entrückte Entschlossenheit verleiht: So könnte die Seligkeit aussehen derer, die reinen Herzens sind. Wie Julia Jentsch als Sophie Scholl auf dem Filmplakat, das von allen Filmplakaten rund um den Berlinale-Palast das Schönste war. Das reine, unbeirrbare Herz strahlt etwas aus, das jedermann anrührt. Auch den Ermittler, der im Film für die Verdorbenheit derer steht, die ihr Gewissen an die Macht verkauft haben. Ein wenig überhöht wirkt diese Sophie Scholl trotz der historischen Genauigkeit des Drehbuchs. Aber was ist daran verkehrt, wenn die Seligkeit ein Gesicht bekommt, das unsere Sehnsucht weckt nach einem reinen Herzen? Zu Recht bekam der Film den Preis der Ökumenischen Jury und Julia Jentsch den Silbernen Bären als beste Darstellerin.

Noch ein anderes Augenpaar wird den Berlinale-Besuchern unvergesslich bleiben: Der Blick des verträumten ungarischen Jungen mit dem gelben Stern auf dem Mantel, der ahnungslos ins KZ gerät und für den das Grauen fortan die einzige Wirklichkeit ist, die gilt. In seinem "Roman eines Schicksallosen" hat Imre Kertész dieses kindliche Ausgesetztsein beschworen und das Entsetzliche so spürbar gemacht wie kein anderer. Wenn es möglich sein soll, dies Buch zu verfilmen, dann ist es mit "Fateless" gelungen. Es gab allerdings Stimmen, die mit der "Ästhetisierung des Schreckens" nicht einverstanden waren. Doch wie sollen wir den Schrecken begreifen ohne die Hilfe derer, die sich quälen, dafür eine Form in Worten und Bildern zu finden?

Die meisten, die aus dem Grauen kommen, können darüber nicht sprechen. Es bleibt in ihren Alpträumen verschlossen, was sie erlitten und was sie getan haben. Die sehr jungen Russen, die im Film "Weiße Raben – Alptraum Tschtschenien" nach ihrem Tun im Krieg befragt werden, sagen bloß: "Wozu über das Schreckliche reden?" Sie haben innerhalb weniger Monate ihre Beine verloren und ihre Seele, das sieht man. Auch die Kinder in dem erschütternden Dokumentarfilm "Lost Children" bringen nur wenig über die Lippen. Sie sind in Uganda von Rebellen entführt, zum Foltern und Töten gezwungen worden. Zahllose Kinder sind auf diese Weise in den Wäldern verschwunden, nur einigen gelingt die Flucht. Ganz kurz zeigt der Film am Ende die Bilder, die diese Kinder jede Nacht im Schlaf verfolgen. Das Schweigen danach, so habe ich in diesem Jahr des Kriegsgedenkens gelernt, ist keine deutsche Eigentümlichkeit. Und noch etwas haben die Filmfestspiele bewusst gemacht: Unser Erinnern ans deutsche Verhängnis darf uns die Aufmerksamkeit nicht rauben für die Schrecken der Gegenwart. Sehr alarmiert sollten wir sein, wenn wieder einmal in einer fernen Region Europäer evakuiert werden. Die beiden Filme über den Völkermord in Ruanda haben gezeigt, was das für die Zurückbleibenden bedeutet. Darum sollte im Religionsunterricht nicht nur "Sophie Scholl" gezeigt werden, sondern auch "Hotel Ruanda".

Es waren ernste Filmfestspiele. Immer wieder nötigte das Gesehene zum Nachdenken über die unfassliche Barbarei der Kriege. Das breite internationale Programm bot genug Gelegenheit zu erkennen, wie menschlich noch der scheinbar unmenschlichste Feind ist. Auch Selbstmordattentäter haben ein Gesicht. Auch sie sind mehr als verblendete Fanatiker. Das hat "Paradise Now" gezeigt, der Film, des palästinensischen Regisseurs Hany Abu-Assad. Er vollbringt das Kunststück, fast heiter den verzweifelten Ernst der palästinensischen Lage zu schildern. Frei von Hass erfasst seine Kamera aber auch das Menschsein der israelischen Besatzer.

Wie es in deren Herzen aussieht, machte dann wieder der keine, kluge Dokumentarfilm "On the objection front" begreiflich, den die ökumenische Jury ebenfalls auszeichnete. Der Film porträtiert einige der israelischen Offiziere, die den Dienst in den besetzten Gebieten verweigert haben. Man erfährt, dass israelische Soldaten, wenn sie bewaffnet in palästinensische Wohnungen eingedrungen sind, sich abends bitter scherzend das Wort "Nazi!" ins Ohr flüstern. Dass sie unter ihrer militärischen Wirklichkeit leiden. Dass sie sich schließlich verweigern, obwohl sie mit diesem Schritt die Liebe ihrer Väter, die Achtung ihrer Freunde verlieren. Widerstand tut weh, auch in einer Demokratie. Das Hinsehen wird mit Hoffnung belohnt: Da sind auf beiden Seiten integre, mutige Menschen, die denken. Es wird in Israel und Palästina nicht bleiben, wie es ist.

Schließlich gab es aus der ganzen weiten Welt auch eine Reihe von Filmen, die sich den heutigen, heiklen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern widmeten. Filme, die das im Alltag Verschwiegene beleuchteten wie "Thumbsucker", der schöne Film mit dem abschreckenden Titel "Daumenlutscher". Auch das Peinliche, die eigene Schwäche, kann im Dunkel des Kinosaals zu Bild und Sprache gebracht werden. Kino muss nicht heißen, der Wirklichkeit zu entfliehen. Im Kino kann man ihr auch begegnen.