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Locarno

60. Festival internazionale del film Locarno 2007

www.pardo.ch - www.kirchen.ch/filmjury - Festivalberichte

DIE OEKUMENISCHE JURY von INTERFILM und SIGNIS

bestehend aus Robin E. Gurney, Grossbritanien; Julia Helmke, Deutschland; Thomas Kroll,  Deutschland (Präsidenr); Jes Nysten, Dänemark; Daria Pezzoli-Olgiati, Schweiz und Karen Merced Willner, USA

vergibt ihren Preis an den Film

La maison jaune/The Yellow House
von Amor Hakkar, Frankreich/Algerien 2007, Vers.orig. berbère/arabe

La maison jaune zeigt, wie Bilder einen Heilungsprozess ermöglichen. Die Hoffnung überwiegt die Unbill des Lebens.
Mitten in der Trauer um ihren verstorbenen Sohn findet eine algerische Berber-Familie Kraft, Erneuerung, Liebe und Unterstützung sowohl innerhalb der Familie und bei allen, denen sie begegnen. Amors Hakkars Film arbeitet sensibel und humorvoll mit poetischen und subtilen Mitteln.

Der Preis ist mit CHF 20'000 dotiert und an die Filmdistribution in der Schweiz gebunden. Das Preisgeld wird von der evangelisch-reformierten und den römisch-katholischen Kirchen der Schweiz zur Verfügung gestellt.

 

Kommentar des Regisseurs
“La maison jaune erzählt die Geschichte eines Mannes, der die sterblichen Überreste seines Sohnes heimholen will. Auch ich musste den Leichnam meines Vaters von Frankreich bis in sein Beduinendorf im Aurès geleiten. Während dieser wenigen Tage wurde ich mit einer zähen Bürokratie konfrontiert und der Trauer von Männern und Frauen, die mir unbekannt waren. Ich wurde getragen von mitleidsvollen Blicken, und anonym gebliebene Hnde unterstützen mich. Ich liebte diese Menschen, die mir ja letztendlich glichen. Ich hatte schon beinahe vergessen, dass ich ein Kindes des Aurès bin. All diese Begegnungen, die Wanderungen durch diese unwirtliche und gleichzeitig schöne Gegend liessen in mir den innigen Wunsche entstehen, dort einen Film zu drehen.“


Die Ökumenische Jury, v.l.n.r.: Karen Merced Willner, Robin Gurney,
Thomas Kroll, Julia Helmke, Daria Pezzoli-Olgiati, Jes Nysten, 
und Festivaldirektor Frédéric Maire
© Fotofestival/Massimo Pedrazzini

 

Schuld und Erinnerung
Eindrücke vom 60. Filmfestival in Locarno 2007
von Julia Helmke

Das Kino als Gedächtnis
Passend zum Jubiläumsjahr – immerhin war Locarno im Jahr 1947 wenige Wochen vor Cannes das erste Filmfestival auf dem europäischen Kontinent und hat sich in einer auch wechselvollen Geschichte als feines kleines A-Festival behauptet – begann und endete das internationale Wettbewerbsprogramm mit Filmen, die sich dem Thema Erinnerung und Gedächtnis widmen: Der Eröffnungsfilm Memories bestand aus drei digital gedrehten Kurzfilmen europäischer Regisseure, ausgelobt von dem koreanischen Filmfest in Jeonju. Ein Ausloten neuer Technik für die Filmkunst, die in ihrer Beliebigkeit jedoch weit schwächer wirkten als der Abschlussfilm Restul e tacere (Der Rest ist Schweigen) von Nae Caranfil, ein farbenprächtiges und so kurzweilig wie witzig-kluges Epos über die Entstehung des ersten rumänischen Spielfilmes zu Beginn des letzten Jahrhunderts, zugleich eine Hommage an die bleibende Magie des Kinos.

Zeitgenössisches Kinoschaffen oszilliert zwischen Konvention und Grenzüberschreitung – das zeigten die 17 weiteren ausgewählten Filme auf stärkere und schwächere Weise. Die Grenze ausgelotet haben dabei vor allem zwei Filme: Zum einen aus den USA der „junge“ Erstlingsfilm eines etwas älteren Herren: Slipstream des Walisers Sir Anthony Hopkins und der japanische Minimal-Film Ai no yokan von Masahiro Kobayashi, der am Ende überraschend den Goldenen Leoparden gewann. Slipstream ist ein visuell irrwitzig-schneller Trip über Wirklichkeit, Wahrnehmung, ein Blick in das Gehirn eines großen Schauspielers und eine biographische Abrechnung mit dem Hollywood-System. Ai no yokan ist dazu das pure Gegenteil: Wir sehen in zigfachen Wiederholungen Szenen aus dem Leben eines Mannes und einer Frau, wie sie als Küchenhilfe Kartoffeln putzt und Eier aufschlägt, wie er das daraus entstehende Frühstück verzehrt, und sehen, wie sich langsam, ganz langsam diese Alltags-Rituale auch verändern und Variationen möglich werden. Ein Film, der zum genauen Hinschauen einlädt, ein Versuch, die heilenden Kräfte von Zeit sichtbar werden zu lassen, den Prozess des Vergebens.

Umgang mit Schuld – filmische und inhaltsschwere Lösungsangebote
Ai no yokan steht inhaltlich in einer Reihe mit einer beträchtlichen Anzahl anderer Wettbewerbsfilme: sie alle handeln von der Schuld, dem Umgang damit. Hier sind es ein Vater, dessen Tochter in der Schule ermordet worden ist und eine Mutter, deren Tochter die Mörderin dieses Mädchen ist und die vor Schuld, auch wenn es nicht die eigene ist, nur noch gebückt durchs Leben läuft – und zufällig in derselben fernen Stadt landet wie der Vater, der das Vergessen in der Fremde sucht.

Freigesprochen des österreichischen Regisseurs Peter Payer ist ein weiterer bemerkenswerter Film, der das Thema der Schuld in den Mittelpunkt stellt. Er erzählt, angelehnt an Ödon von Horvaths Drama „Der jüngste Tag“ von den Schuldvorwürfen, die einen Mann, eine Frau, in den Selbstmord treiben. Wenige Monate nachdem bei einem Zugunglück an derselben Stelle 22 Menschen sterben. Der Mann ist Stationsvorsteher, der ein Signal übersehen hat, die Frau ist seine Jugendbekannte, die ihn just in diesem Moment aus Übermut geküsst und damit abgelenkt hat. Ein Film ohne Ausweg, von einer bedrängenden Macht, die viele Kritiker über-konstruiert empfanden, der gleichwohl die Frage nach einer Unterscheidung von subjektiver und objektiver Schuld radikal stellt und quälend lange vor Augen führt, die Enge und Isolation, in die Schuldbelastung führt. Weit weg ist das von einer Botschaft, die nicht freispricht aber dennoch befreit. Der Botschaft des Evangeliums, die für uns in der ökumenischen Jury neben und mit der hohen ästhetischen Qualität das Messinstrument in der Filmbetrachtung ist.

Eine andere Schuld drückt den jungen ehrgeizigen Boxer Michele in dem fulminant-düsteren Schweizer Beitrag Fuori dalle Corde (Außerhalb des Ringes) von Fulvio Bernasconi. Seine Eltern sind früh verstorben, seine ältere Schwester hat sich verschuldet, um ihm den Sport und seine Karriere zu ermöglichen. Nun ist nach einem abgekarteten Kampf sein Vertrag geplatzt, die Schulden drücken, seine Schwester als erste Bezugsperson will ihn unbedingt als erfolgreichen Champion sehen, und so lässt er sich tiefer und tiefer in die schmutzige Welt der illegalen Boxkämpfe ein. Anstrengend ist das zu sehen, wie einer versucht integer zu bleiben und seine für den Kampferfolg nötige Agressivität zugleich aus seiner wachsendem Selbstverachtung zieht. Die Grenze nach unten bildet der Tod – wie in vielen der vorgestellten Filme. Oder in Sprachlosigkeit - wie in dem gesellschaftskritischen Werk Contre toute ésperance des Kanadiers Bernard Émond über eine Frau, die erst ihre Arbeit an die globalen Strukturen des Marktes verliert und dann ihren Mann an eine unheilbare Krankheit und am Ende mit einem Gewehr in der Hand durch das nächtliche Montréal läuft.

Die Frage von schuldhafter Beziehungen und der (Un-)Möglichkeit diese zu verändern überwiegt vor stärker politisch orientierten Filmen, die sich ebenfalls der Frage nach Schuld stellen – sei es bei der nach möglicher Schuld im Fall von Extraordinary rendition von Jim Threapleton über die Zerstörung eines Menschen und fälschlich als Terroristen Verdächtigten mittels Folter oder nach menschengemachten unmenschlichen Lebensbedingungen für eine junge Familie in Haiti und Santo Domingo in Claudio Del Puntas Haïti chérie.  

Der Tod steht nicht am Ende, sondern am Beginn des algerischen Film La maison jaune von Amor Hakkar, der einstimmig den Preis der Ökumenischen Jury erhalten hat. Ein leiser und poetischer Film. Ein scheinbar einfaches Roadmovie, der von Trauer zur Freude, von der Einsamkeit zur Gemeinschaft und von bleibender Hoffnung erzählt. Ein starker und sehenswerter Film, mit den Worten der Jury: „La maison jaune zeigt, wie Bilder einen Heilungsprozess ermöglichen. Die Hoffnung überwiegt die Unbill des Lebens. Mitten in der Trauer um ihren verstorbenen Sohn findet eine algerische Berber-Familie Kraft, Erneuerung, Liebe und Unterstützung sowohl innerhalb der Familie und bei allen, denen sie begegnen. Amors Hakkars Film arbeitet sensibel und humorvoll mit poetischen und subtilen Mitteln.“

Julia Helmke

 

60. Filmfestival Locarno
Festivalreport von Charles Martig


Am Filmfestival von Locarno hat die französisch-algerische Produktion «La maison jaune» den renommierten Ökumenischen Preis gewonnen. Der Film von Amor Hakkar ist ein eindrückliches Porträt einer Berberfamilie, die sich dem Tod ihres Sohnes Stellen muss. «La maison jaune» zeigt die Trauer der Familie, ihre Kraft zur Erneuerung und ihre Hoffnung.

Zum 60. Geburtstag hat das Filmfestival Locarno einen guten, aber auch sehr gegensätzlich programmierten Internationalen Wettbewerb, präsentiert. Vom intimistischen Beziehungsdrama über den Politfilm bis zum konventionellen Kostümfilm erstreckte sich die Spannweite. Es war ein Wettbewerb der Extreme, in dem künstlerisch anspruchsvolle Arbeiten wie «Capitaine Achab» über Melvilles «Moby-Dick» neben dem Politfilm «Extraordinary Rendition» – über die Opfer des CIA-Kampfes gegen den Terrorismus, die systematisch entführt und gefoltert werden – stand. In diesem Kontext glänzten sowohl Michel Piccolis Darstellung eines poetisch überhöhten Todes unter den Dächern von Paris («Sous les toits de Paris») als auch die Trauerarbeit des in Frankreich lebenden Berbers Amor Hakkar.

Tod und Trauer als Leitthemen

«La maison jaune» zeigt eine eindrucksvolle Trauerarbeit im islamischen Kontext. Der Sohn eines Bergbauern stirbt bei einem Unfall. Die Familie ist tief betrübt und der Vater macht sich auf, den Leichnam auf seinem Traktor zurück ins Dorf zu führen. Im ersten Teil ist der Film ein Roadmovie, mit Sinn für die Feinheiten der Erzählung und für den Ritus der Bestattung in einem islamischen Land. Dann wendet sich Regisseur Amor Hakkar der privaten Verarbeitung des Ereignisses zu. Die Mutter hat sich vollständig in ihre Trauer zurückgezogen. Weder das Streichen des Hauses mit gelber Farbe noch die Anschaffung eines Hundes kann sie aus ihrer Depression befreien. Erst als ein Videotape auftaucht, das Bilder ihres Sohnes enthält, wird sie aktiv. Gemeinsam versuchen nun Eltern und Kinder die Hürden der Bürokratie zu überwinden. Es geht um so rudimentäre Dinge wie ein Fernsehgerät und einen elektrischen Anschluss in ihrem einfachen Haus. Mit einem Sinn für die Surrealität des alltäglichen Lebens zeigt der Film die Not der Familie und ihr Potential, zu jedem erdenklichen Problem eine Lösung zu finden. Die Poesie der Landschaft ist ebenso beeindruckend wie die überraschende Naivität des Vaters.

Gemäss der Ökumenischen Jury zeigt der Film «wie Bilder einen Heilungsprozess ermöglichen.» Weiter begründet die Ökumenische Jury ihren Entscheid mit Werten aus der islamisch geprägten Berber-Kultur: «Die Hoffnung überwiegt die Unbill des Lebens. Mitten in der Trauer um ihren verstorbenen Sohn findet eine algerische Berber-Familie Kraft, Erneuerung, Liebe und Unterstützung sowohl innerhalb der Familie und bei allen, denen sie begegnen. Amor Hakkars Film arbeitet sensibel und humorvoll mit poetischen und subtilen Mitteln.»


Radikale Schuldverstrickung

Auffallend im Internationalen Wettbewerb war die ausdrückliche Thematisierung von Schuld und ihrer Mechanismen in Beziehungen. Dies trifft auf das katalanische Beziehungsdrama «Lo mejor de mí» von Roser Aguilar zu. Die Regisseurin erzählt in intimistischem Stil von einer jungen Frau, die die Hälfte ihrer Leber  als Transplantat für  ihren kranken Freund hergibt. «Freigesprochen» spielt die schicksalhafte Beziehung eines Bahnaufsehers und einer jungen Frau durch, die durch einen Kuss den Tod von 22 Menschen in einem Zugsunglück verursachen. Der gerichtliche Freispruch entledigt nicht von der existentiellen Schuld und führt in die Tragödie. Die radikalste und ästhetisch konsequenteste Umsetzung der Schuldverstrickung zeigte jedoch der japanische Beitrag «Ai no yokan», der dafür den Goldenen Leoparden gewann. Zu Beginn vermitteln zwei parallel montierte Interviews die Zeugenaussagen eines Mordes: Norikos Tochter hat eine Mitschülerin, die Tochter Junichis, umgebracht. Danach folgt eine grandiose Zurücknahme der Mittel. Ohne Dialog zeigt er den Alltag und Begegnung der beiden Elternteile ein Jahr später in einer entlegenen Kleinstadt Hokkaidos. Der Regisseur Masahiro Kobayashi setzt auf monotone Wiederholung der Routinen und rituellen Alltagshandlungen. In diesem endlosen Repetition wird die kleinste Variation zu einem Zeichen für die mögliche Versöhnung. «Ai no yokan» bedeutet «Eine Ahnung von Liebe», und spielt auf die versteckten Zeichen an, die zwischen den beiden zutiefst verletzten Individuen ausgetauscht werden.

Trilogie des Glaubens

Ein Höhepunkt im Wettbewerb war «Contre toute espérance»  des kanadischen Regisseurs Bernard Émond. Die Geschichte von Réjeanne, die ihren Arbeitsplatz, ihr Haus und zuletzt ihren Mann verliert, handelt von der Hoffnung. Bernard Émond arbeitet an einer Trilogie zu Glaube, Hoffnung und Liebe. Bereits im Jahr 2005 hat er für seinen Film «La Neuvaine» (Die Novene) in Locarno den Preis der Ökumenischen Jury erhalten. Mit dem zweiten Teil «Contre toute espérance» erkundet er nun das Leben eines Paares, dem der Boden unter den Füssen entgleitet. Die Hauptfigur Réjeanne ist in der Psychiatrie eingeliefert worden. Ein Kommissar versucht zu rekonstruieren, was genau im Leben dieses Paares geschehen ist, wieso es zu einem tragischen Ende kam. Mit formaler Stringenz arbeitet der Regisseur an den Grenzen der Hoffnungslosigkeit. Die grosse Stärke des Filmes ist die Erzählung in Episoden und Rückblenden. Dabei erhebt sich aus der Suchbewegung die Frage nach der Kontingenz, die menschliche Antwort auf Krankheit und Tod, sowie auf die unbarmherzigen Mechanismen des globalisierten Arbeitsmarktes.


Präsenz der Ökumenischen Jury in Locarno

Neben der Sichtung von 18 Filmen im Internationalen Wettbewerb hatte die Jury unter der Leitung des Präsidenten Thomas Kroll auch repräsentative Aufgaben. So zum Beispiel am Ökumenischen Empfang der Kirchen, der zu den wichtigsten Rezeptionen des Festivals gehört. Dieser wurde am 7. August 2007 vom Festivalpräsidenten Marco Solari und vom Jury-Koordinator Signis Schweiz, Charles Martig, eröffnet.

Von kirchlicher Seite fand am 5. August 2007 auch ein ökumenischer Gottesdienst statt, der von der Ökumenischen Arbeitsgruppe Tessin durchgeführt wurde. Die Meditation zum Verhältnis von Gleichnisbildern und Filmbildern im Kino hielt Daria Pezzoli-Olgiati. In der Bildgalerie finden sich Impressionen vom Festival und von der Präsenz der Jury auf dem Festival.

Charles Martig
Filmbeauftragter Katholischer Mediendienst


Weblinks:

News über die Arbeit der Ökumenischen Jury in Locarno

Bildgalerie Ökumenische Jury Locarno

Offizielle Festivalsite

Palmarès: Alle Preise im Überblick

Interview mit dem Preisträger Amor Hakkar (swissinfo, französisch)

Website des Filmes «Contre toute espérance»

Dossier der SRG SSR idée suisse zum 60. Geburtstag des Filmfestivals Locarno (mit historischen Fernseh- und Radiobeiträgen)

 

Contact:

Produktion und Weltrechte von «La maison jaune»

Sarah Films
2 c. chemin de Palente
25000 Besançon
France
Tel : 0033 381 47 22 72
E-mail
contact@sarah-films.fr