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Nyon

Filmfestival Visions du Réel Nyon 2006
24.-30. April 2006

PREISE DER INTERRELIGIOESEN JURY
Mit dem Ziel, einen Beitrag zum Dialog zwischen den Religionen zu leisten, ermöglichten die Katholische Kirche in der Schweiz und die John Templeton Stiftung (USA) 2005 im Sinne eines Pilotprojekts am Filmfestival Visions du Réel in Nyon am Genfersee den Aufbau einer interreligiösen Jury, die auch die Mitarbeit von jüdischen und muslimischen Mitgliedern ermöglicht. Die internationale Filmkultur, die am Festival Visions du Réel gezeigt wird, stellt eine ausgezeichnete Plattform dar für den Dialog zwischen verschiedenen religiösen Kulturen und Werthaltungen.

Der Jurypreis für einen Film aus dem Wettbewerb ist mit einer Summe von CHF 5'000 verbunden, gestiftet von der Katholischen Kirche Schweiz und der John Templeton-Stiftung. Ausserdem vergibt die Jury einen mit weiteren CHF 5'000 dotierten John Templeton-Spezialpreis an einen aus dem ganze Programm ausgewählten Film über Wissenschaft und Religion, der mit einer Folgeveranstaltung in der Schweiz verbunden ist, an welcher der ausgezeichnete Film zur Diskussion gestellt wird.

Die 12. Ausgabe des Festivals „Visions du Réel“ fand vom 24.-30. April statt. Die vom Katholischen Mediendienst in Zusammenarbeit mit den Jurykoordinatoren von SIGNIS und INTERFILM/John Templeton-Stiftung benannten Mitglieder für die zweite Interreligiöse Jury umfasste als Vorsitzenden Charles Martig, Geschäftsführer und Filmbeauftragter des Katholischen Mediendienstes Zürich (Schweiz); Lic.phil Saïda Keller-Messahli Zürich (Tunesien/Schweiz); Rev. Robin E.Gurney, Beds, (England); Dr. Julia Helmke, Hannover (Deutschland).


Der mit 5´000 Franken dotierte Preis der Katholischen Kirche Schweiz und der John Templeton Stiftung wurde vergeben an:

Voices of Bam
von Aliona van der Horst und Maasja Ooms, Holland/Iran 2005


"Nachrichtenkameras sind schnell ausgeschaltet. 'Voices of Bam' bringt nachdrücklich ins Gedächtnis, dass und wie Naturkatastrophen zerstörtes Leben zurücklassen, das es wieder aufzubauen gilt. Schwierige Entscheidungen sind zu treffen, der Frage nach Gott kann nicht ausgewichen werden. Körperliche und ethische Anforderungen sind zu bewältigen, Verluste zu beklagen und zu erinnern, damit Leben weitergehen kann.
Der Film der holländischen Regisseurin beeindruckte die Jury besonders durch die künstlerische Verwendung von Photographie und Stimme, die dazu beiträgt, eine lebendige Erinnerung an die Toten zu gewährleisten."
 
 
Der mit 5´000 Franken dotierte John Templeton-Spezialpreis für einen Film über Wissenschaft und Religion ging an:

Unser tägliches Brot
von Nikolaus Geyrhalter, Österreich 2005

"Der Film führt uns den modernen Einsatz technologischer Methoden der wirtschaftlichen Herstellung unserer Nahrungsmittel vor. Er konfrontiert uns mit der Ausbeutung der Schöpfung und mit unserem Verhältnis zur Erde und zu ihren Ressourcen. Ausschliesslich mit Bildern eröffnet der Film die Möglichkeit einer endlosen Auseinandersetzung mit der industriellen Anwendung von wissenschaftlichem Fortschritt, mit unserem verlorenen Paradies und dem Bedürfnis nach unserem täglichen Brot."

Die Mitglieder der Jury (v.l.n.r): Charles Martig, Jurypräsident (Schweiz)
Julia Helmke (Deutschland), Saïda Keller-Messahli (Tunesien/Schweiz), Robin E. Gurney (England)

 

Visions du réel – Fiktionale Formen des Intimen
Bericht von Charles Martig

Das 12. Dokumentarfilmfestival in Nyon (24.-30. April) zeigte eine klare Tendenz zur "Fiktion des Realen". In zahlreichen Wettbewerbsbeiträgen löste sich die Distanz zum Gezeigten in fiktionalen Inszenierungen und intimen Momenten auf. Die interreligiöse Jury verlieh gegen diesen Trend ihren Preis an den Film "Voices of Bam", eine Meditation über die Erinnerung an die Toten des grossen Erdbebens im Iran. Der Spezialpreis zu Wissenschaft und Religion ging an "Unser täglich Brot".

Es gibt sie noch, die klassische Form des Films als memoire, die Erinnerung an Ereignisse, die nach Godard mehr ist als eine unterhaltende narrative Form. "Voices of Bam" der Holländerinnen Aliona van der Horst und Maasja Ooms beruht auf Fotografien, die in den Trümmerfeldern in Bam nach dem grossen Erdbeben von 2003 gefunden wurden. Rund 30'000 Menschen starben in dieser Naturkatastrophe. Die Überlebenden erinnern sich ihrer Verstorbenen und sprechen zu ihnen in sehr individuellen und poetischen Gebeten; dazu werden Bilder aus dem Alltag der Überlebenden gezeigt. Bestechend ist der tiefe Blick in die Befindlichkeit der Menschen, die uns sehr vertraut erscheinen. Überraschend und berührend ist die starke Verbindung zwischen Lebenden und Toten, die im Film erlebbar wird.

Grenzlinien überschreiten

Im Kern hat Festivaldirektor Jean Perret mit seinem Team jedoch Filme in den Wettbewerb aufgenommen, die an der Grenzlinie zur Fiktion arbeiten, oder diese sogar überschreiten. "Promised Paradise" beschäftigt sich mit der politisch-religiösen Situation in Indonesien, wo Fundamentalismus und Moderne heftig aufeinander treffen. Leonard Retel Helmrich wagt dabei eine starke Form der Inszenierung: Mit dem Puppenspieler Agus Nur Amal begibt er sich auf die unkonventionellen Wege des kreativen Geistes in Jakarta und auf Bali. Dabei geht der Film in seiner fiktionalen Manipulation sogar so weit, ein Interview zwischen einem fundamentalistischen Imam und dem Puppenspieler zu inszenieren. Alles ist Manipulation und die dahinterliegende Wahrheit gräbt sich als Stachel tief ins Fleisch. So ist der Film ein Beitrag zur Frage, wo die Grenzen der Satire liegen. – Auch "Diario Argentino" folgt dem politischen Kino; hier nun in der lateinamerikanischen Tradition. Anhand einer bezeichnenden Verwechslung von linker und rechter Hand bringt der Film bereits am Anfang die politische Desorientierung Argentiniens als Metapher ins Spiel. Das Erstlingswerk der in Barcelona lebenden Lupe Pérez García ist frech und entwaffnend zugleich. Es funktioniert als Spielfilm ebenso wie als authentischer Kommentar zur politischen Lage der Nation.

Im Genre des Homemovies präsentiert Arash, ein Exiliraner aus Wien, in "Exile Family Movie" seine Familiengeschichte. Seit mehr als zwanzig Jahren lebt ein Teil der weit verzweigten Sippschaft in Österreich und in den USA. Die Familienzusammenführung gelingt dank einer Pilgerreise nach Mekka. Hier treffen die unterschiedlichen kulturellen Auffassungen aufeinander. Das private Schicksal und die politische Dimension kommen in dieser intimen Form der Inszenierung zusammen: eine erhellende Diskussion zwischen Moderne und Tradition in der muslimischen Kultur.

Ateliers und bekannte Namen

Besonderes attraktiv waren die gutbesuchten Ateliers und Sondervorführungen in Nyon. In den Ateliers waren Avi Mograbi mit seinen politischen Filmen aus Israel und den besetzten Territorien Palästinas sowie Rithy Panh mit seinen filmischen Gedichten zum Genozid in Kambodscha eindrückliche und inspirierende Gesprächspartner. Diese Veranstaltungen wurden mit Spezialvorstellungen ergänzt, die zeitweise dazu führten, dass der internationale Wettbewerb vom Publikum etwas vernachlässigt wurde. Alain Cavalier, Regisseur des Films "Thérèse", präsentierte sein persönliches Journal, das neben seinem Filmschaffen auch dem Tod seines Vaters und seinem eigenen Leiden an einer Tumorkrankheit gewidmet ist. – Der international bekannte Spielfilmregisseur Atom Egoyan reiste mit seiner Frau Arsinée Khanjian nach Beirut, zurück an den Ort ihrer Kindheit, wo sie bis zum Alter von 17 Jahren lebte. Egoyan begleitete die Schauspielerin mit einer kleinen Digitalkamera. Entstanden ist ein persönliches Journal, das sich im Kommentar an den Sohn des Paares richtet. Eine freie Mischung aus dramatischer Inszenierung und authentischem Material gibt den Blick frei auf ein Beirut der Nostalgie und der schmerzvollen Erinnerung.

Grenzen des Wachstums

Vor zwölf Jahren trat das Festival an, die Kultur der Debatte neu zu erfinden und Visionen des Realen zu erkunden. Das Programm ist jedoch so stark gewachsen – derzeit sind es 160 Filme, die in einer Woche gezeigt werden –, dass die Grenzen des Wachstums erreicht sind. Das Forum, ein prominenter Ort der Debatte, litt unter mangelnder Teilnahme, wie auch der internationale Wettbewerb. Die zahlreichen, attraktiven Nebenveranstaltungen und Premieren stahlen den wichtigen Werken die notwendige Aufmerksamkeit. Die Tugend der Reduktion auf das Wesentliche wäre wieder gefragt.

Charles Martig, Filmbeauftragter Katholischer Mediendienst
charles.martig@kath.ch