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Leipzig

50. Internationales Festival für Dokumentar- und Animationsfilm Leipzig
29.10.-4.11.2007

Festivalbericht

Preis der ökumenischen Jury

Die Ökumenische Jury vergibt den Ökumenischen Filmpreis an

Kamienna Cisza (Stone Silence)
von Krzysztof Kopczynski, Polen 2007

Jurybegründung:
Ist in einem  afghanischen Dorf Amina, eine verheiratete Frau, wegen Ehebruchs gesteinigt worden?
Der Film führt den Zuschauer mit faszinierenden Bildern durch ein Labyrinth von  Wahrheit und Lüge, Ungesagtem und Widersprüchen. Die Dorfgemeinschaft versucht dem Druck des Gesetzes, der Religion und der Tradition auszuweichen. Auf der spannenden Suche nach der Wahrheit gelingt es dem Film den lokalen Kontext zu überwinden und die biblische Frage aktuell und provokativ zu stellen: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein“.

Mitglieder der Jury:

Guido Erbrich
Leiter der Katholischen Erwachsenenbildung Sachsen (KEBS), Deutschland
Dr. Margrit Frölich
Filmwissenschaftlerin, Stellv. Direktorin und Studienleiterin der Evangelischen Akademie Arnoldshain, Deutschland
Erich Langjahr
Regisseur und Produzent, Schweiz
Jacques Vercueil
Direktor i.R. der Entwicklungsstudien der FAO, Mitglied des Leitungsausschusses von ProFil (Protestantische Filmorganisation), Frankreich

 

Auf den Spuren der Wirklichkeit
Impressionen vom 50. Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm
(29.10.-4.11.2007)
von Margrit Frölich, Mitglied der Ökumenischen Jury

Im November 2007 feierte das weltweit älteste Dokumentarfilmfestival sein 50-jähriges Jubiläum. Mit einer Retrospektive der preisgekrönten Filme erinnerte es an seine Geschichte. Der in diesem Herbst erstmals veranstaltete "Generation DOK" Nachwuchswettbewerb ließ gleichwohl erkennen, dass das Leipziger Festival nicht nur in der Gegenwart angekommen ist, sondern auch zukunftsweisende Akzente setzt. Allerhand Sehenswertes gab es zu entdecken, so etwa im Animationsfilmwettbewerb und in diversen Sonderreihen, was einen eigenen Bericht wert wäre. Der Internationale Dokumentarfilmwettbewerb bot eine Fülle bemerkenswerter Filme mit vielfältigen Themen und unterschiedlichen Erzählweisen.

In ihrem Debutfilm Nu te supara, dar ... (Don’t get me wrong) beschäftigt sich die rumänische Filmemacherin Adina Pintilie mit Patienten einer psychiatrischen Klinik. Einer von ihnen sitzt auf dem Boden, vor ihm ein Meer von Steinen. Sein Tagewerk besteht darin, die Steine umzuschichten, nach einer Logik, die nur er versteht. Konzentriert widmet er sich der unendlichen Aufgabe. Nur an Tagen, an denen es regnet, muss er seine Tätigkeit unterbrechen. Wie überhaupt der Regen zwei andere Patienten über alle Maßen beschäftigt. Einer der beiden ist davon überzeugt, eine Methode gefunden zu haben, mit der er den Regen stoppen kann. Er glaubt, dass diese Entdeckung ihm den Nobelpreis eintragen wird. Immer wieder aufs Neue erläutert er seinem gutmütigen Gesprächspartner deren Einzelheiten; dieser kleidet seine Einwände jedes Mal in dieselben höflichen Worte ("Don’t get me wrong, but..."). Der Regisseurin geht es nicht um eine Anklage der Institution und der Lebensbedingungen in der psychiatrischen Anstalt. Ihr Interesse gilt den psychisch Kranken, die im Wahrnehmungshorizont der rumänischen Gesellschaft ausgegrenzt sind. Behutsam nähert sie sich ihnen. Dennoch sorgte der Film für heftige Kontroversen. Einige Zuschauer warfen der Regisseurin vor, die menschliche Würde der Gefilmten verletzt zu haben. Tatsächlich bekommen wir in einer längeren Passage die entblößten Körper der psychisch Kranken zu sehen, die bei der Körperhygiene zum Teil auf die Hilfe anderer Patienten angewiesen sind.  Indem die internationale Jury diesen Film mit der Goldenen Taube auszeichnete, zeigte sie Gespür für die herausragende poetische Intensität dieses gleichwohl umstrittenen Films.

Gesellschaftliche Institutionen, die der Disziplinierung dienen, wecken immer wieder das Interesse von Dokumentarfilmern. Um jugendliche Straftäter vor Gericht geht es in dem Film Juizo („Behave“) der brasilianischen Regisseurin Maria Augusta Ramos, für den sie den Preis der Fipresci-Jury erhielt. Dass es diesem Film gelingt, die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu fesseln, verdankt sich in erster Linie den schauspielerischen Qualitäten der Jugendrichterin, die dem Realen eine dramatische Spannung verleiht, wie es keine fiktionale Inszenierung besser könnte. Recht sprechen muss sie über jugendliche Delinquenten aus den Favelas von Rio de Janeiro. Gleichzeitig kennt sie deren armselige Lebensbedingungen. So weiß sie, dass eine Verurteilung von Teenagermüttern zu einer Gefängnisstrafe dazu führen wird, dass deren Babys wer weiß wem überlassen bleiben. Doch kann sie den Raub, dessen sich die Mädchen schuldig gemacht haben, nicht ungestraft lassen. Die Handlungsspielräume, die das Gesetz ihr lässt, sind gering. Um die Qualität dieses beachtlichen Films besser würdigen zu können, bedarf es einer Erläuterung seiner dokumentarischen Besonderheiten. In Brasilien ist es nicht erlaubt, minderjährige Straftäter zu filmen. So durfte die Regisseurin im Gerichtssaal zwar drehen, die jugendlichen Angeklagten aber nicht zeigen. Nachträglich hat sie Jugendliche aus den Favelas als Laienschauspieler die Gerichtszenen nachspielen lassen und diese mit den dokumentarischen Aufnahmen der Richterin und ihrer Beisitzer montiert.

Dass die internationale Jury den deutschen Wettbewerbsbeitrag von Thomas Heise, Kinder, wie die Zeit vergeht, mit der Silbernen Taube auszeichnete, mag man als eine Hommage an die Tradition des DEFA-Dokumentarfilms werten, die in Heises Film in neuem Licht glänzt. Lange Einstellungen, langsame Kamerafahrten, Schwarzweißaufnahmen mit scharfen Lichtkontrasten. Ein sanierter Chemiekonzern im Schein der Straßenlaternen; menschenleere Straßenzüge; eine einsame Eisenbahnstrecke in frostiger Landschaft. „Kinder, wie die Zeit vergeht“ ist die Fortsetzung von zwei früheren Filmen des Berliner Dokumentarfilmers, STAU – jetzt geht’s los (1992) und NEUSTADT Stau – Der Stand der Dinge (2000). Aufsehen erregt hatte Heise Anfang der 1990er Jahre mit dem ersten der beiden Vorläufer, der von rechtsextremen Jugendlichen in Halle-Neustadt handelte. Im zweiten Film konzentrierte sich der Regisseur auf das familiäre Umfeld eines der Jugendlichen aus der rechten Clique. Dabei trat dessen Schwester Jeannette in den Vordergrund, die nach einer desaströsen Frühehe ihren beiden Söhne alleine aufzog. In einer Szene des Films (die Heise in den aktuellen Film montiert) sagte die junge Frau über den achtjährigen Tommi, ihren älteren Sohn, der erste Verhaltensauffälligkeiten zeigte: "Schade drum". Dieser resignierte Ausspruch war der Anknüpfungspunkt für Heise, sieben Jahre später noch einmal nach Halle-Neustadt zurückzukehren, um zu sehen, was aus Jeannette und ihren Söhnen geworden ist. Während der Jüngere der Mutter keine Schwierigkeiten bereitet, ist Tommi inzwischen in einer Einrichtung für schwer Erziehbare gelandet. Hingezogen fühlt er sich zu einem älteren Jungen, der von sich behauptet, kein typischer Nazi zu sein, aber einschlägige fremdenfeindliche Einstellungen aufweist. In der dem Abriss preisgegebenen Plattenbausiedlung, in der Jeannette mit ihren Söhnen wohnte, übt Tommi sich nun mit anderen Jugendlichen im gefährlichen Spiel mit echten Schusswaffen. Heise hält sich mit eilfertigen Deutungen zurück. Auf diese Weise ermöglicht er dem Zuschauer nuancierte Einblicke in die Sinn- und Lebenswelten seiner Protagonisten. Deren Lebensläufe verstören, weil an ihnen die ungebrochene Wirkungsmacht emotionaler und sozialer Verwerfungen von einer Generation zur nächsten sichtbar wird.

Einer der spannendsten Filme des Festivals war L’Avocat de la Terreur. Mit großem Budget gedreht, porträtiert der renommierte Hollywoodregisseur Barbet Schroeder in diesem Film eine der schillerndsten und undurchsichtigsten Figuren der französischen Öffentlichkeit: den Rechtsanwalt Jacques Vergès. Wer seinerzeit den Prozess um den Nazikriegsverbrecher Klaus Barbie verfolgte, wird sich gefragt haben, was den politisch links eingestellten Anwalt dazu bewogen haben mochte, den als "Schlächter von Lyon" berüchtigten Barbie zu verteidigen. In L’Avocat de la Terreur gibt Vergès darauf folgende Antwort: Er habe dem französischen Staat zeigen wollen, dass die Methoden der kolonialen Machtausübung in Algerien sich qualitativ nicht von denen der Nazis im besetzten Frankreich unterschieden. Rhetorisch brillant und von wachem Verstand, hat doch die Auswahl seiner Mandanten (darunter Carlos, einen der Hauptakteure des internationalen Terrorismus) den französischen Staranwalt in ein zweifelhaftes Licht gerückt. Vergès, Sohn eines französischen Vaters und einer vietnamesischen Mutter, engagierte sich in der Studentenbewegung für die Rechte ethnischer Minderheiten. Der erste Höhepunkt seiner juristischen Karriere war die Verteidigung der Bombenattentäterin Djamila Bouhired. Er verliebt sich in die Kämpferin des algerischen Freiheitskampfs, sie heiraten und bekommen ein Kind. Eines Tages verschwindet Vergès aus dem gemeinsamen Leben und kehrt aus Algerien nach Frankreich zurück. Diesem biografischen Bruch werden weitere folgen, die bis heute Rätsel aufwerfen. Kein Zweifel, Barbet Schroeders Film ist ein Ereignis des Dokumentarfilmkinos. Doch so eindrucksvoll der Regisseur die komplexen Verzweigungen im Lebensweg seines enigmatischen Protagonisten entwickelt, so sehr entzieht Vergès sich immer wieder dem Bemühen, dessen unbelichtete Facetten zu erhellen.

Den Preis der Ökumenischen Jury erhielt der Film Kamiena Cisza (Stone Silence) des polnischen Regisseurs Krzsyztof Kopczynski. Eine felsige Berglandschaft, getaucht in satte Farben, glitzert im Sonnenschein. Mit diesen faszinierenden Landschaftsbildern beginnt der Film. Doch der schöne Schein trügt. Ort der Handlung ist eine Dorfgemeinschaft im Norden Afghanistans. Eine Frau ist hier zu Tode gekommen. Offiziell lautete die Todesursache Herzstillstand. Doch vieles deutet darauf hin, dass sie wegen Ehebruchs gesteinigt wurde. Was tatsächlich geschah, hat sich im Dickicht der Lügen und Scheinbehauptungen verflüchtigt – und die Steine schweigen. Nichts erinnert mehr an Amina, die nach Sitte des Landes mit Muhammad verheiratet wurde, einem Mann, der sie allein zurückließ, als er zum Arbeiten in den Iran ging. Fünf Jahre nach den Ereignissen begibt sich der Regisseur an den Ort des Geschehens und versucht, in Gesprächen mit Familienangehörigen der toten Frau, ihres Ehemanns und ihres mutmaßlichen Geliebten sowie in Interviews mit Vertretern von Menschenrechtsorganisationen die Zusammenhänge zu ergründen. Die Wahrheit zutage zu befördern, gelingt ihm nicht. Immer wieder muss er sich auf die Argumentation seiner Gesprächspartner einlassen, um nicht als Eindringling von ihnen abgewiesen zu werden. Einer der starken Momente dieses Films ist eine Szene, in der Aminas Mutter, die noch eben das moralische Vergehen ihrer Tochter aufs schärfste verurteilte und jegliche äußere Ähnlichkeit mit ihr leugnete, überraschend ihre Burka abnimmt und der Kamera ihr schönes Gesicht präsentiert. Ein Film, der über die Schwierigkeiten im Umgang mit der Wahrheit erzählt und darauf aufmerksam macht, dass in dieser Krisenregion Menschenrecht nicht als Frauenrecht gilt.

Abschließend sollen zwei Filme besondere Erwähnung finden. Nach der Musik von Igor Heitzmann, Gewinner des Jurypreises innerhalb des Deutschen Dokumentarfilmwettbewerbs, und He Fengming (Fengming, a Chinese Memoir) ein Filmdokument des chinesischen Regisseurs Wang Bang, das außer Konkurrenz im Internationalen Wettbewerb zu sehen war.

Nach der Musik ist ein autobiographischer Film, der von der Beziehung des 1971 geborenen Regisseurs zu seinem Vater erzählt. Hineingeboren wurde der Regisseur in eine ungewöhnliche Familienkonstellation, deren Schauplätze sich diesseits und jenseits der durch die Mauer getrennten Hälften Berlins befanden. Im Osten lebte der Vater mit seiner Ehefrau, im Westen besuchte er seine Geliebte, die den gemeinsamen Sohn großzog. 1960 war der gebürtige Österreicher Otmar Suitner in die DDR übergesiedelt – der Musik wegen. Zuletzt dirigierte der international berühmte Musiker die Kapelle der Berliner Staatsoper. Wegen seiner Parkinsonerkrankung musste er den Taktstock aus der Hand legen. Dieser Film kann als besondere Entdeckung des Leipziger Festivals gelten. Er lebt von dem ungewöhnlichen Charme des inzwischen hoch betagten Mannes und von der Musik, mit deren Hilfe der inzwischen erwachsene Sohn einen Zugang zum Vater findet.

Schwer hingegen wird es der chinesische Film He Fengming  haben, ein Publikum zu finden. Das auf Digitalkamera aufgezeichnete Filmdokument verzichtet ganz auf Montage und Kamerabewegung. Seine gesamte Aufmerksamkeit richtet der Regisseur auf Fengming, die in einem bewegenden Monolog von ihrem Leidensweg unter Maos Herrschaft berichtet. Als Studentin hatte Fengming sich 1949 gemeinsam mit ihrem Mann von der chinesischen Revolution begeistern lassen. Für eine Zeitung arbeitend, wollte das junge Paar die revolutionären Ideen verbreiten. Als Mao den politischen Kurswechsel einschlug, wurden die beiden als Konterrevolutionäre in Arbeitslager verbannt. Dieses Schicksal teilten sie mit etwa 300.000 chinesischen Intellektuellen. Wer bereit ist, sich auf die dreistündige Tour der Force einzulassen, wird mit einem außergewöhnlichen Zeugnis der chinesischen Zeitgeschichte belohnt.