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Locarno

63. Festival Internazionale del Film Locarno 2010
4.-14.8.2010

www.pardo.ch  |  Jury-Website  |  Festivalbericht

Predigt zum Festival


Preise der ökumenischen Jury

Die Ökumenische Jury, getragen von INTERFILM und SIGNIS, verleiht ihren Preis an

Morgen
Regie: Marian Crisan, Frankreich/Rumänien/Ungarn 2010

Nelu, Wachmann in einem Supermarkt an der rumänisch-ungarischen Grenze, versteckt in seinem Keller einen Türken, der illegal nach Deutschland einwandern will. Mit der Zeit entdecken die beiden immer mehr Gemeinsamkeiten jenseits aller sprachlichen und kulturellen Unterschiede. Mit liebevollem Witz erzählt der Film von menschlicher Nähe und Verständigung über die Grenzen hinweg. (Website des Preisträgers: http://www.morgen.ro/)

Die Jury vergibt außerdem zwei Lobende Erwähnungen an die Filme

Han Jia / Winter Vacation
Regie: Li Hongqi, China 2010

Li Hongqi versteht es den letzten Tag der Winterferien in einem chinesischen Dorf in streng konstruierten Bildern, langen Einstellungen und knappen, lakonischen Dialogen zu beschreiben. Bei aller Melancholie bestimmt dabei Humor seinen Blick.

Karamay
Regie: Xu Xin, China 2010

Für sein hervorragendes und mutiges Zeugnis über eine grosse Tragödie. In einer Gesellschaft, welche aus einer langen kulturellen Tradition heraus Individuen dem allgemeinen Wohl opfert, führt die fehlende Integrität der Führungskräfte zum Tod von fast 300 Kindern. Im Verlauf der Interviews mit Opfern erwächst – durch Mut und Bitterkeit – das Bewusstsein für die notwendige persönliche Verantwortung. (Zum Verbot des Films in China: www.farwestchina.com/2010/04/xinjiang-documentary-to-be-banned-in-china.html)

 

Die Mitglieder der Jury (v.l.): Cynthia Chambers (USA),  Michael Otrisal (Tschechische Republik), Waltraud Verlaguet (Frankreich), Charles Martig (Schweiz),  Angelika Obert (Deutschland) – Präsidentin, Theo Peporte (Luxenburg) 

 

Zwei Menschen und viele Filme unter einem Dach
Das 63. Internationale Filmfestival in Locarno, 4. – 14. August 2010

von Christine Stark, Filmbeauftragte der Reformierten Medien

Das Dach seines Hauses ist undicht, aber einen Dachdecker kann er sich nicht leisten. Dennoch ist es gut genug, um einen Fremden zu beherbergen. Als der Rumäne Nelu nahe der ungarischen Grenze von einem hilfesuchenden Türken angesprochen wird, zögert er nicht lange und nimmt ihn mit zu sich nach hause. Zwar versteckt er ihn – nicht zuletzt vor seiner Frau – zunächst im Kartoffelkeller, aber er nimmt sich seiner an, so gut er kann. Auch wenn er kein Wort versteht, wenn der Türke wild gestikulierend auf ihn einredet, weiss er doch, dass dieser über die Grenze nach Ungarn möchte, und das deutsche Wort Morgen wird zum grossen Versprechen. Der Erstling von Marian Crisan überzeugte in dem starken Wettbewerb des diesjährigen Filmfestivals nicht nur die internationale Jury, die ihm ihren Spezialpreis zuerkannte, sondern auch die Ökumenische Jury. Sie verlieh ihm den mit CHF 20'000 dotierten Ökumenischen Filmpreis. Das Preisgeld ist für den Schweizer Verleih des Films bestimmt und wird gemeinsam von der römisch-katholischen und den evangelisch-reformierten Kirchen der Schweiz gestiftet. In ihrer Begründung heisst es: "Mit liebevollem Witz erzählt der Film von menschlicher Nähe und Verständigung über die Grenzen hinweg." Unter dem Präsidium der Berliner Radiopfarrerin Angelika Obert arbeiteten in der Jury Theo Peporte, Leiter der Kommunikations- und Pressestelle der katholischen Kirche in Luxemburg, die Journalistin und Drehbuchautorin Cynthia Chambers aus Los Angeles, der tschechische Pfarrer und Fernsehjournalist Michael Otrisal, die französische Theologin und Filmpublizistin Waltraud Verlaguet sowie der schweizerische katholische Filmbeauftragte Charles Martig zusammen.

Da der "Concorso internazionale" einige bemerkenswerte Film zeigte, entschied sich die Jury dazu, zusätzlich zu ihrem Preis gleich zwei lobende Erwähnungen zu verleihen. Sie zeichnete damit die beiden chinesischen Beiträge Han Jia (Winter Vacation) von Li Hongqi und Karamay von Xu Xin aus. Ersterer erzählt lakonisch humorvoll vom letzten Tag der Winterferien in einem nordchinesischen Dorf und gewann das Rennen um den Goldenen Leoparden. Letzterer ragte innerhalb des Wettbewerbs allein durch seine schiere Länge von fast 6 Stunden heraus, noch dazu stand er als Dokumentation zwischen lauter Spielfilmen. Er dokumentiert mit ausführlichen Interviews und teils schockierendem Archivmaterial eine Brandkatastrophe in der chinesischen Ölarbeiterstadt Karamay. Dort kamen 1994 knapp 300 Personen ums Leben, die meisten von ihnen Schulkinder. Der genaue Hergang und das offensichtliche behördliche Versagen ist bis heute nicht ordentlich aufgearbeitet.

Karamay

 

Karamay

Es ist ein grosses Verdienst des neuen künstlerischen Direktors Olivier Père, einen solchen Film inmitten des Hauptwettbewerbs zu platzieren. Obwohl er fast 100 Filme weniger als seine Vorgänger programmierte, führte er ein ausserordentliches Spektrum unter dem Dach des Locarneser Festivals zusammen. Dass darunter auch ein kruder Zombieporno zu sehen war, sorgte für Kopfschütteln und Spott, ging aber bald dank anderer diskussionswürdiger Filme vergessen. Allerdings kam keiner der Beiträge an die politische Wucht des chinesischen Dokumentarfilms heran. Einzelschicksale und persönliche Themen dominierten die Geschichten, die über die Leinwand flimmerten, das Politische schien zumeist ausgeklammert. Auffällig oft entwickelte sich ein Konflikt um das inzestuöse Begehren zwischen einem Elternteil und einem heranwachsenden Kind. In dem von der Jugendjury ausgezeichneten hoch stilisierten Science Fiction Womb von Benedikt Fliegauf wurde dies artifiziell dahingehend zugespitzt, dass eine Frau einen Klon ihres verstorbenen Liebhabers austrägt, gebiert und aufzieht.

Die beiden Schweizer Beiträge waren von jungen Regisseurinnen gedreht, die grosses Potenzial versprechen. Die Pubertätstragödie Songs of Love and Hate von Katalin Gödrös eröffnete den internationalen Wettbewerb mit der Geschichte einer 15jährigen, die ihre erwachende Weiblichkeit als Macht entdeckt und brutal ausspielt. Das Pflegedrama Le petit chambre von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond sorgte für einen kleinen Höhepunkt zur Halbzeit des Festivals. Hier müssen ein älterer Herr und seine Spitexpflegerin miteinander klar kommen, obwohl beide persönliche Verletzungen mit sich herumtragen.

Insgesamt verspricht die künstlerische Leitung Olivier Pères neue Impulse für Locarno. Die Piazza Grande bespielte er allerdings durchmischt und zeigte nicht nur allzu Gefälliges. Kriminalgeschichten, Film noir, zu später Stunde ebenfalls ein Zombiefilm, damit wurden nicht die grossen Massen angezogen. Auch hier programmierte der Franzose gleich zwei Schweizer Filme, die das Piazza-Feeling allerdings ordentlich befeuerten: Die äusserst unterhaltsame Dokumentation zu der Radsportlegende Hugo Koblet – Pédaleur de charme sowie die tiefgängige Komödie Sommervögel über die Liebesgeschichte zwischen einem Ex-Knacki und einer leicht geistig Behinderten. Wer nicht auf der Piazza war, kann sich auf den Herbst freuen, wenn beide Filme in der Schweiz ins Kino kommen.

 

Predigt
zum FestivalGottesdienst in Locarno 2010

von Angelika Obert, Präsidentin der Ökumenischen Jury

Es ist schon eine jahrelange Tradition, dass die Ökumenische Arbeitsgemeinschaft der Kirchen im Tessin im  Rahmen des Internationalen Film Festivals Locarno am ersten Festivalwochenende in der „Chiesa Nuova“ einen ökumenischen Gottesdienst gestaltet, an dem sich u.a. Vertreter der evangelischen-reformierten, der römisch-katholischen, der anglikanischen, rumänisch-orthodoxen und syrisch-orthodoxen Kirche im Tessin beteiligen. In der Regel wird die Predigt In Anwesenheit des Festivalpräsidenten Marco Solari und anderer Persönlichkeiten) von einem Mitglied der ökumenischen Jury gehalten. Dieses Jahr hat Pfarrerin Angelika Obert, Radio- und Fernsehbeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg und Präsidentin der Ökumenischen Jury, unter dem Thema „Offen füreinander“  über die Geschichte vom Turmbau zu Babel (1. Mose 9, 1-11) im Kontext der Pfingstgeschichte (Apostelgeschichte 2, 1-13) gepredigt:

Man vermutet, dass auch heute noch mehr als 4000 Sprachen gesprochen werden. Es gibt dafür keinen plausiblen Grund, denn die Sprechorgane sind bei allen Menschen ähnlich. Warum unterscheiden wir uns dann so sehr in der Art, wie wir sie benutzen? Die Geschichte vom Turmbau zu Babel erklärt uns das Rätsel als Gottes Strafe für menschlichen Übermut.

Aber dass wir überhaupt sprechen können, ist etwas, was uns mit Gott verbindet. Es konstituiert unser menschliches Bewusstsein: Nur weil wir Sprache haben, können wir die Welt benennen, können wir uns selbst erkennen und in Beziehung setzen, können wir uns auch selbst überschreiten und von Gott wissen. Dank der Sprache sind wir verbunden mit denen, die vor uns waren, und verbunden auch mit dem, was nicht ist, aber sein könnte oder sein sollte. Wir können uns das Gewesene und das Mögliche erzählen.

Aber immer bleibt etwas Unsagbares übrig, in uns und um uns, von dem wir geschieden bleiben, weil uns unsere Sprache da nicht herankommen lässt. Schlimmer noch: Unser Sprechen ist auch geeignet, uns in Täuschungen festzuhalten. Die Sprache, durch die wir einander erreichen, stärken und ermutigen können, sie dient uns auch dazu, uns zu kränken und zu demütigen. Sie ist das Mittel der Verständigung, an dem wir immer wieder scheitern. Davon erzählt uns die Geschichte vom Turmbau: Das Geheimnis der Vielfalt der Sprachen wird als eine Strafe Gottes erklärt – als etwas, was uns vom Ursprung trennt. Jenseits von Eden, aber auch jenseits von Babel finden wir uns vor: nicht im Reinen mit Gott, nicht im Reinen mit seinem Logos. Doch seit Pfingsten glauben wir, dass wir der Sprachverwirrung, die die Menschheit zerreißt, nicht ausgeliefert sind. Seit Pfingsten leben wir mit der Verheißung, dass sie heilbar ist, wo der Geist Gottes sich mitteilt. Wir leben nicht nur zwischen Babel und Pfingsten, sondern eigentlich immer: mit Babel und Pfingsten.

Heute, in unserer globalisierten Welt, sieht es manchmal so aus, als würden wir es schaffen, Gott zu überlisten. Heute ist die Menschheit nah dran, alles zu tun, was sie sich vorgenommen hat, und sie hat auch längst Wege und Mittel gefunden, Sprachbarrieren zu überwinden. Zu welcher Zerstörung die Menschheit fähig ist, weil sie nahezu alles tun kann, was sie sich vornimmt, haben wir in diesem Frühjahr mit Grauen erlebt: Es war nun kein allzu hoher Turmbau, aber eine allzu tiefe Öl-Bohrung auf dem Meersgrund, die plötzlich nicht mehr beherrschbar war. Manchmal wünschte man sich, Gott wollte auch heute noch hernieder fahren, um zu hindern, dass alles getan wird, was Menschen sich so vornehmen.

Aber es gibt auch Erfahrungen, die uns ahnen lassen, dass uns die eigene Sprache, Kultur und Religion nicht mehr unüberwindbar von Anderen trennen: Wenn wir uns aus aller Herren Länder zu einem internationalen Filmfestival treffen, erleben wir diese Nähe und Verbundenheit oft in einer besonders schönen Weise. Und das verdanken wir dem Film, der uns mit seinen besonderen Möglichkeiten wirklich hilft, unsere Sprachbarrieren zu überwinden. Wenn wir die fremde Sprache auch nicht verstehen können, so können wir die Bilder aus der fremden Welt doch lesen – wir werden gemeinsam angerührt.

Gewiss ist die Filmsprache nicht die Sprache des heiligen Geistes, nicht wahrheitsfähiger als sonst irgendeine Sprache. Im Gegenteil. Mit ihren komplexen Möglichkeiten können Filme uns erst recht verführen, täuschen und manipulieren – und sie können sogar da scheitern, wo sie sich um Wahrhaftigkeit bemühen. Sie sind wie alles Menschwerk – irgendwo zwischen Babel und Pfingsten.

Und doch: Wenn wir im Film immer wieder mitfühlen mit Kindern aus Mexiko und Frauen in China, mit Obdachlosen in Deutschland und sogar mit russischen Mafiosi – dann mag es sein, dass wir doch immer sensibler werden für die Täuschungen, mit denen wir uns so oft gegeneinander wappnen. Auf dass wir pfingstlicher werden: offener füreinander und manchmal auch fähig, ein versöhnendes, ein heilendes, ein befreiendes Wort zu sprechen.


Preisverleihung Locarno 2010

Angelika Obert mit Preisträger Marian Crisan