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Locarno

64. Festival del Film Locarno 2011
3. – 13.8.2011

www.pardo.ch  | Festivalbericht I  |  Festivalbericht II

Preise der Ökumenischen Jury

Die Ökumenische Jury, getragen von INTERFILM und SIGNIS, verleiht ihren Preis an

Vol spécial
Regie: Fernand Melgar, Schweiz 2011

Vol spécial

In seiner berührenden und authentischen Dokumentation führt Fernand Melgar das Publikum an einen Ort, den Normalbürger niemals zu Gesicht bekommen: in das Ausschaffungszentrum Frambois, in dem Hoffnungen und Ängste unterschiedlichster Menschen kulminieren. Sowohl die Angestellten als auch die Insassen verhalten sich menschlich unter unmenschlichen Umständen, und so kann sie der Zuseher und die Zuseherin als Individuen erfahren, die ihre eigene Familie, ihre Religion und ihre je eigene Würde haben.

Die Jury vergibt außerdem zwei Lobende Erwähnungen an die Filme

Onder ons (Among Us)
Regie: Marco van Geffen, Niederlande 2011

Onder ons

Handwerklich und künstlerisch bemerkenswert gemacht, zeigt uns dieser Film die subtile Xenophobie Westeuropas, die oft nur von einer dünnen Schicht kultureller Konventionen bedeckt ist. Sie lenkt davon ab, dass Mangel an Kommunikation und Gewalt auch ein genuines Problem unserer eigenen hochorganisierten und sauberen Vorstädte ist.

Abrir puertas y ventanas (Back to Stay)
Regie: Milagros Mumenthaler, Argentinien / Schweiz 2011

Abrir puertas y ventanas

Drei völlig unterschiedliche Schwestern, Waisen, leben allein in einem Haus voller Erinnerungen mit der Herausforderung, erwachsen zu werden. Atmosphärisch außergewöhnlich dicht, erzählt Mumenthaler von den verschiedenen und manchmal schmerzhaften Wegen, auf denen individuelle Entwicklung erfolgt. Er zeigt, dass es immer wieder neu gilt, Türen und Fenster aufzustoßen, obwohl es Erinnerungen sind, die uns helfen, die Gegenwart zu begreifen.

Mitglieder der Jury:
Joachim Valentin (Deutschland) – Präsident
Sanne E. Grunnet (Dänemark)
Daria Lepori (Schweiz)
Ieva Pitruka (Lettland)
Konstantin Terzis (Griechenland)
Christian Wessely (Österreich)


Die Jury beim Ökumenischen Empfang, v.l.:
Ieva Pietruka, Konastantin Terzis, Daria Lepori,
Sanne e. Grunnet, Joachim Valentin, Christian Wessely

Web: http://www.kirchen.ch/filmjury
Twitter: http://www.twitter.com  @filmjury
E-Mail:
jury@kirchen.ch

 

Gewaltige Themen und grosser Besucherandrang – ein selektiver Blick
Das 64. Internationale Filmfestival in Locarno
Ein Bericht von Christine Stark, Filmbeauftragte der reformierten Medien

Kino kann verspielt sein, unterhaltend, schockierend, tiefernst oder immer auch wieder prophetisch wach. Wer zu Festivalbeginn noch Zeit für die Tagespresse hatte, rieb sich bei manchem Film die Augen. Da hat man eben beim Frühstück gelesen, wie sich Polizeikräfte, die an Ausschaffungen beteiligt sind, von übergeordneten Behörden allein gelassen fühlen. Wenig später sieht man in einer Vorführung Vol spécial, eine Dokumentation über das Genfer Ausschaffungszentrum Frambois. Der Westschweizer Filmemacher Fernand Melgar zeigt sich in seinem neuen Film nach La Forteresse (Goldener Leopard in der Sektion "Cinéaste du Présent" 2008) einmal mehr politisch engagiert. Das Publikum, unter ihm ehemalige Exponenten des Schweizer Evangelischen Kirchenbundes (SEK) oder auch Mitarbeitende, des Schweizer Evangelischen Hilfswerkes (HEKS) gab Standing Ovations. Der Film wurde als Favorit für einen Leoparden gehandelt, ging aber diesbezüglich leer aus. Irritierend gegenteilig äusserte sich der Präsident der Internationalen Jury, der portugiesische Produzent Paolo Branco, abschätzig und warf ihm – zur Irritation der versammelten Presse – gar billige faschistische Untertöne vor. Damit hat er sich im Ton vergriffen, seine Kritik ist haltlos. So war auch ganz anders die Ökumenische Jury (zusammen mit der Jugendjury) am Ende des Festivals davon überzeugt, mit Vol spécial den besten Wettbewerbsbeitrag gesehen zu haben, und verlieh dem Film am vergangenen Samstag ihren mit 20‘000 CHF dotierten Preis, der gemeinsam von den reformierten und katholischen Kirchen der Schweiz getragen wird und an den Verleih des Films in der Schweiz gebunden ist. In ihrer Begründung heisst es: "Sowohl die Angestellten als auch die Insassen verhalten sich menschlich unter unmenschlichen Umständen, und so kann sie der Zuseher und die Zuseherin als Individuen erfahren, die ihre eigene Familie, ihre Religion und ihre je eigene Würde haben." Der Film startet am 29. September in den Deutschschweizer Kinos.

Lobende Erwähnungen der Ökumenischen Jury
Mit lobenden Erwähnungen würdigte die Ökumenische Jury den niederländischen Film Onder ons von Marco van Geffen sowie die argentinisch-schweizerische Koproduktion Abrir puertas y ventanas von Milagros Mumenthaler, die auch den Goldenen Leoparden errang. Die Jury setzte sich zusammen aus Joachim Valentin (Deutschland), Sanne E. Grunnet (Dänemark), Daria Lepori (Schweiz), Ieva Pitruka (Lettland), Konstantin Terzis (Griechenland) und Christian Wessely (Österreich)iktion.

Von der Realität überrollte Fiktion
Von der plötzlichen Aktualität überrollt zeigte sich der israelische Regisseur Nadav Lapid mit seinem politischen Thriller Hashoter (Policeman). Ursprünglich als Fictionfilm gedreht, erscheint er vor den Zeitungsberichten über Massenproteste und soziale Unruhen in Israel in ganz anderem Licht. Er handelt von einer Gruppe Elitesoldaten, die bei Sondereinsätzen arabische Terroristen liquidieren. Plötzlich werden sie damit konfrontiert, dass Terror auch von innen heraus kommen kann. Sie sollen radikalisierte junge Israelis exekutieren, die einzig Gewalt als Ausweg aus dem enormen wirtschaftlichen Ungleichgewicht in der israelischen Gesellschaft sehen. Dieser erschütternde, jedoch auch recht konventionelle Thriller über eine von Gewalt durchtränkte Gesellschaft wurde seitens des Festivals mit dem "Preis der Jury" honoriert.
Überhaupt problematisierten zahlreiche Filme die Gewaltthematik und zeigten, dass sich Locarno – bei allem Neuen, das Olivier Père als künstlerischer Leiter auch in seinem zweiten Jahr brachte – treu bleibt und zeigt, was Filmschaffende weltweit an politisch Brisantem bewegt.

Cowboys und Aliens auf der Piazza Grande
Wer von der expliziten, oft aber auch subtilen Gewalt der Wettbewerbsfilme erschöpft auf der Piazza Grande einen unterhaltsamen Abend herbei sehnte, wurde am Samstagabend zunächst vom Wetter, dann aber auch vom Programm durchgeschüttelt. Zwei Weltstars, die je auf ihre Weise als Ikonen maskuliner Schönheit und Stärke gelten, kämpften sich durch den Film Cowboys and Aliens. Mit Harrison Ford, dem Retter intergalaktischer Welten und Prinzessinnen der 80er Jahre, und Daniel Craig, dem Prügel-James Bond des 21sten Jahrhunderts, wurde die regengebeutelte Piazza zusätzlich mit hollywoodschem Testosteron geflutet. Der Film zeigt seinem Titel entsprechend Cowboys und Aliens, die miteinander kämpfen, bis sich schliesslich die einzige aktive Frauenfigur für die Menschheit opfert. Die überirdische Schönheit von Olivia Wild verkörpert ebenfalls ein Alien, wenn auch das gute, das Menschengestalt annahm, um die Welt zu retten. Diese besteht ganz brav im Westerngenre aus guten und weniger guten Cowboys und einigen streng edlen Indianern. Eine Kalorienbombe von Film, die mit aberwitzigen Kampfszenen unterhält, jedoch sinnfrei und uninspiriert bleibt. Aber natürlich gehört das Spektakel auf der Piazza Grande ebenfalls zu diesem ausgesprochenen Publikumsfestival, das in diesem Jahr mit dem grossen Andrang äusserst zufrieden sein konnte.

 

Kontroverse um "Vol spécial"
Bericht von Charles Martig, Filmbeauftragter Katholischer Mediendienst

Am 64. Filmfestival in Locarno zeichnete die Ökumenische Jury den Film "Vol spécial" mit ihrem Preis aus. Eine Kontroverse löste allerdings die Feststellung von Paulo Branco aus, der dem Film über das Ausschaffungs-verfahren in der Schweiz faschistische Tendenzen vorwarf. Die Retrospektive zu Vincente Minelli vermochte auch das jüngere Publikum an das klassische Hollywood-Kino heranzuführen.

Nach der heftigen Debatte in Cannes rund um die Äusserungen von Lars von Trier ist es nun auch am Filmfestival Locarno zu einem kleinen Eklat gekommen. Der Präsident der Internationalen Jury Paulo Branco antwortete auf die Frage, warum bei der Vergabe der Leoparden die politisch positionierten Filme nicht berücksichtigt wurden, mit dem Diktum, dass für ihn alle Filme politisch seien. Dabei holte er an der Medienkonferenz der Preisvergabe zu einem massiven Vorwurf gegen den Schweizer Wettbewerbsfilm Vol spécial aus: "Ce film s’accompagne d’un fascisme ordinaire trop courant dans notre société. Celui-là même qu’il prétend dénoncer. (...) Je responsabilise complètement le metteur en scène d’avoir fait un film fasciste." Diese Aussage ist umso erstaunlicher, als die Ökumenische Jury diesen als besten Film des Wettbewerbs auszeichnete und damit sowohl die gestalterische als auch die gesellschaftspolitische Bedeutung des Films hervorhob.

Vol spécial – der beste Film des Festivals

Joachim Valentin, Präsident der Ökumenischen Jury, sagte gegenüber Schweizer Radio DRS 2: "Nach den Kriterien unserer Jury ist Vol spécial der beste Film im Festival, sowohl gestalterisch als auch bezüglich der humanistischen Werte." Die Vorwürfe von Paulo Branco sind aus der Sicht der Ökumenischen Jury nicht akzeptabel. Valentin sieht die Bedeutung des Films vor allem darin, dass die Problematik der Ausschaffungshaft alle Europäischen Länder betrifft.

Auch die Schweizer Verleiherin Bea Cuttat (Look Now) wehrt sich vehement gegen die Vorwürfe: "Es ist uns unverständlich, wie Vol spécial so gelesen werden kann, wie die Jury dazu gekommen ist, den Film so krass misszuverstehen. Fernand Melgar macht keine militanten Filme, er überzeichnet nicht laut, sondern zeigt engagiert die Situation auf und nimmt somit seine Zuschauer auch ernst." Mit dieser Erzählhaltung befindet sich der Regisseur in der qualitativ hochstehenden Tradition des Schweizer Dokumentarfilms. Nicht die Denunziation des politischen Systems mit starken Thesen steht hier im Vordergrund, sondern die möglichst differenzierte Schilderung des Alltags der Flüchtlinge, die im Ausschaffungszentrum in Genf leben.

Gesellschaftspolitische Dringlichkeit

Auffallend war im Wettbewerb von Locarno, dass neben den stilleren Werken – wie zum Beispiel Abrir puertas y ventanas, mit dem Goldenen Leopard, dem Preis der FIPRESCI und einer lobenden Erwähnung der Ökumenischen Jury der erfolgreichste Film – auch die klar politisch positionierten Filme eine Bedeutung hatten. So etwa die rumänischen Filme oder der niederländische Film Onder ons, der die Situation eines polnischen Aupair-Mädchens in Amsterdam zeigt, das nur knapp einer Vergewaltigung entkommt. Gesellschaftspolitischen Impetus hatte auch Sette opere della misericordia aus Italien, der jedoch gestalterisch nicht ganz überzeugte. Verstörende Wirkung brachte der Film Hashoter / Policeman aus Israel mit sich. Der Regisseur Nadav Lapid zeigt hier eine völlig gespaltene Gesellschaft, die unter einer politischen Desorientierung leidet. Nach einer Geiselnahme erschiessen Polizisten einer Spezialeinheit die jungen Leute, die sich für diesen Akt des Terrors entschieden haben. Doch hat diese Aktion keinen Sinn mehr, weder für die Polizisten noch für die Aktivisten. Dieser Zugang wurde mit dem Spezialpreis der Internationalen Jury ausgezeichnet.

Existentielle Befindlichkeiten

Neben der Tendenz zum Politischen zeigte der Wettbewerb auch eine starke Auseinandersetzung mit Befindlichkeiten. Der US-amerkanische Independent Filmer Mike Cahill entwickelt das Leitmotiv einer zweiten Erde, die am Firmament erscheint. Mit diesem Motiv in seinem Film Another Earth spiegelt er die Befindlichkeit der weiblichen Figur. Rhoda Williams ist eine intelligente junge Frau, die in das Astrophysik Programm des MIT aufgenommen wurde. Sie möchte das Universum erforschen. Ein tragischer Autounfall zerstört ihre Zukunft und die Familie eines brillianten Komponisten. Am Vorabend der Entdeckung einer zweiten Welt geschieht das Zusammentreffen und ihre Schicksale werden unwiderruflich miteinander verknüpft. Schuld, Vergebung und die Möglichkeit, ein zweites Leben auf einem anderen Planeten zu beginnen, sind die Themen dieses markanten Films. Der Independent Film war eine der grossen Entdeckungen im Wettbewerb. Zusammen mit Terri – dem Porträt eines übergewichtigen Jugendlichen an einer Highschool – hinterliess der Independent Film aus den USA einen starken Eindruck in Locarno.

Retrospektive: Vincente Minelli

Das Musical aus dem Hollywood Studio MGM bildete den würdigen Rahmen der filmhistorischen Entdeckungen in Locarno. Was Vincente Minelli hier geschaffen hat, wird erst in der Zusammenschau wirklich erfahrbar. An American in Paris mit Gene Kelly und Leslie Caron ist das bekannteste Werk von ihm. Doch sind Filme wie Gigi (1958), Meet Me in St. Louis (1944) und The Sandpiper (1965) ebenso Meisterwerke des Unterhaltungsfilms. Gene Kelly, Fred Astaire, Dean Martin, Elizabetz Taylor, Lauren Bacall, Kirk Douglas, Anthony Quinn: Die Hauptdarsteller lesen sich wie ein "Who is Who" des Hollywood-Films und zeigen, welche Bedeutung Minelli in der Produktion von Metro Goldwyn Mayer hatte. Damit ist Olivier Père wiederum gelungen, eine jüngere Generation an das klassische Hollywood-Kino heranzuführen.

Vincente Minnelli: Gigi
Vincente Minnelli: Gigi